Kardinal vor La Rochelle
würde.
»Geliebte französische Lerche,
einmal muß ich meiner Galle Luft machen und vor wem, wenn nicht Ihnen, so fassungslos bin ich über den Gang der Dinge hier.
Alles geschieht ohne jeden Verstand, mit der unglaublichsten Tollheit. Und das schlimme ist: Der arme Carolus 1 sieht nichts vor Blindheit und vermag auch vor Schwäche nichts dagegen. Gutmütig ist er, zweifellos, aber welche Kraft hat Güte,
die weder über Geist noch Willen gebietet? Wissen Sie, was ein Professor aus Oxford über ihn sagte: Er verstehe so viel wie
ein Kramhändler, der die Kundschaft fragt: ›Was wünschen Sie?‹
Aber das schlimmste ist natürlich, wie vollständig Carolus Thron, Zepter, Reich und Ehre diesem Steenie 2 überlassen hat, der hier absolut macht, was er will, obwohl alles, was er will und macht, regelmäßig gegen das Reichsinteresse geht. Ich darf
Sie erinnern, meine geliebte Lerche: Steenie ist der Kosename, den unser armer Carolus in Schwäche und Zärtlichkeit seinem
Günstling gab, dessen Namen ich nicht einmal aussprechen will, so dreht es mir bei den drei Silben den Magen um.
Sollten Sie finden, daß ich übertreibe, dann hören Sie, was |304| ich ihm vorwerfe. Wenn Steenie zur Ehre seines Königs und zum Wohl des Reiches handelte, würde ich den unbändigen Haß der
übergroßen Mehrheit meiner Landsleute gegen ihn gewiß nicht teilen. Aber er vergöttert sich selbst derart, daß weder Frauen
noch Königreiche ihm widerstehen dürfen, und läßt sich in seinem Handeln von jeher nur von Launen, Eitelkeit und Rache leiten.
Als Brautwerber in Madrid benahm er sich so ungehörig gegen die Infantin – indem er sich bei Nacht in ihren Gartenhof stahl
–, daß er Karls Heiratsplan zum Scheitern brachte. Zur Vergeltung dafür, daß man ihm die Tür gewiesen hatte, entsandte er
diese völlig sinnlose Expedition nach Cádiz, die England um dreißig große Schiffe und siebentausend Soldaten ärmer machte.
Während sich dieses Desaster abspielte, verbrachte Steenie goldene Tage in Paris, angebetet von denen, die Sie die diabolischen
Reifröcke nennen. Zwar erhielt er für seinen Prinzen die Hand von Ludwigs kleiner Schwester Henriette-Marie, dafür raubte
er Ludwigs Gemahlin Anna im Garten zu Amiens einen Kuß. Und als Ludwig ihm verbot, Frankreichs Boden noch jemals zu betreten,
rächte er sich, indem er die Insel Ré besetzte, bei deren Räumung er die Hälfte seiner Truppen verlor. Dann überredete er
Karl, dem bedrängten La Rochelle zu Hilfe zu eilen, hielt es aber nicht für nötig, vorher genaue Erkundigungen über die französische
Flottenstärke einzuziehen. Wie das Abenteuer ausging, wissen Sie.
Cádiz! Insel Ré! La Rochelle! Drei katastrophale Niederlagen hat er mittlerweile verschuldet – zu Englands Schande, zum Ruin
seiner Finanzen und, das schlimmste, zum Verlust Tausender seiner Söhne! Aber glauben Sie, er ließe ab von seiner leichtfertigen
Politik? Ach, woher!
Kaum ist die Mai-Expedition zum Entsetzen des hungernden La Rochelle gescheitert, rüstet unser Steenie in Portsmouth zu einer
neuen Expedition zugunsten der armen Hugenottenstadt. Nur trifft er diesmal auf zahllose Schwierigkeiten, die nachwachsen
wie die Köpfe der Hydra. Und der Grund dafür ist besagter Haß, der dem Günstling beim ganzen Volk entgegenschlägt.
Was er auch tut in Portsmouth, er stößt auf Unwillen, Trägheit, Langsamkeit, sogar auf heimlichen oder offenen Ungehorsam.
Noch sind die Schiffe voll von Kranken und Verwundeten |305| der vorigen Expedition: Wohin mit ihnen? Wer kümmert sich um sie? Gewiß nicht die Wundärzte der königlichen Marine, die in
den Hafenschenken hocken und ein Bier nach dem anderen trinken.
Auf einem Schiff meutert die Besatzung. Die Meuterei wird mit aller Härte niedergeschlagen, und das Ergebnis: Die Desertionen
vervielfachen sich. Weil es an Kanonieren fehlt, werden junge Londoner gepreßt und nach Portsmouth verschleppt, aber unterwegs
entwischen sie, denn ihre Bewacher drücken absichtlich ein Auge zu … Die Überlebenden der Expeditionen von Cádiz, von der
Insel Ré und von Lord Denbigh sagen überall laut und ungescheut, La Rochelle Hilfe zu bringen heißt in den sicheren Tod gehen.
Die Flottenkapitäne verbieten solche Reden nicht, im Gegenteil, sie bekräftigen sie.
Pamphlete, einen Penny das Stück, erinnern daran, daß das Parlament Steenie als den Urheber aller Übel und Katastrophen verklagt
hat, unter denen das Reich
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