Kardinal vor La Rochelle
leidet.
Die Pastoren in den Kleine-Leute-Vierteln predigen darüber, wie der Herr Sodom und Gomorrha auslöschte. Dann fällt die Gemeinde
mit so vehementen Rufen: »Karl! George! 1 Karl! George!« ein, daß die Predigt unterbrochen werden und der Prediger den Büttel zu Hilfe holen muß, um den Aufruhr zu beschwichtigen,
den er selbst heraufbeschworen hat.
Von Aufruhr und Todeswünschen, meine französische Lerche, ist es bei uns derzeit nicht weit bis zum Tod.
In Steenies Umgebung gab es einen gewissen Doktor Lamb, der vielleicht gar kein Doktor und sicherlich kein frommes Lamm war.
Er gab sich als Hellseher, Magier, Astrologe aus, kurz, rühmte sich geheimnisvoller Kräfte, die das Volk anfangs in Erstaunen
setzten, bald aber schreckten, weil man dahinter die Hand des Teufels vermutete.
Nun hatte man zwei-, dreimal gesehen, wie Steenie den Doktor Lamb angeblich konsultierte, und schon erhitzten sich die Geister
und erblickten in ihm denjenigen, der Steenie seine rätselhafte Macht über den König gab. Seitdem hieß er nur noch »des Herzogs
böser Geist«, und bissige Pamphlete erklärten den Doktor zur Ursache aller Übel:
Wer regiert das Reich? – Der König!
|306| Wer regiert den König? – Der Herzog!
Wer regiert den Herzog? – Der Teufel!
Sie können sich denken, geliebte Lerche, daß jemand, der für den Teufel gehalten wird und der obendrein krumm und scheeläugig
ist, auf den Quais von Portsmouth besser nicht durch eine Menge spaziert, die voll Trauer, Auflehnung und Empörung zusieht,
wie die Schiffe instand gesetzt und aufgetakelt werden zur Ausfahrt. Einer in dieser Menge erkannte den Doktor. »Da ist Lamb!
Des Herzogs böser Geist!« schrie er. Lamb erschrickt und nimmt Reißaus. Er wird verfolgt, eingeholt, geschlagen, zu Boden
geworfen, die guten Leute scharen sich um ihn im Kreis und steinigen ihn fromm zu Tode. Welch eine Lust, mit gutem Gewissen
zu morden!
Der Mord besänftigte aber die Gemüter nicht, er stachelte sie vielmehr zu Weiterem auf. Bald ging ein Spruch heimlich von
Mund zu Mund, lief im Nu durch die ganze Stadt, so treffend fand man ihn, bis er an den Mauern von Portsmouth geschrieben
stand:
Karl und George können machen, was sie wollen,
George muß sterben wie Doktor Lamb.
Beunruhigt durch diesen lodernden Haß in Portsmouth, raten Steenies Freunde ihm, ein Kettenhemd unterm Wams zu tragen. Aber
dazu ist unser Steenie zu stolz. Vielleicht denkt er, ein Kettenhemd macht dick und verdirbt seine schlanke Taille. Quem Jupiter
vult perdere, prius dementat. 1
Ich als Frau halte wahrlich nichts von Blutvergießen. Ein Mord ist in meinen Augen immer niedrig, schändlich und verdammenswert.
Aber, ehrlich gesagt, wenn Steenie diese Welt verließe, würden alle Engländer, mich eingeschlossen, einen Seufzer unendlicher
Erleichterung gen Himmel schicken und einen Lobgesang zum Dank an den Schöpfer anstimmen.
Meine teure französische Lerche, ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung, daß ich Ihre Geduld so lange beansprucht habe, ich
denke aber, die Dinge werden Sie interessieren, und sicherlich werden Sie mit mir glühend wünschen, daß unsere |307| beiden Länder sich wieder versöhnen und Freunde werden wie einst.«
***
Diesen Brief erhielt ich kurz nach Mittag, und unverweilt ließ ich mein Pferd satteln, um zum Kardinal nach Schloß La Sauzaie
zu reiten. Zum Glück war er im Hause. Und als ich Charpentier ins Ohr raunte, ich hätte neueste Nachrichten aus England, empfing
mich der Kardinal bald.
Ich teilte ihm mit, daß der Brief, den ich soeben erhalten hatte und der hochinteressante Dinge über die Situation in Portsmouth
berichte, von Mylady Markby stamme und setzte zu einer Erklärung an, wer die Schreiberin sei.
»Oh, ich erinnere mich«, unterbrach mich der Kardinal, »die Dame war eine Freundin Eures Vaters und wurde auch Eure, als Ihr
im vergangenen Jahr in London wart. Sie nahm Euch in ihrem Hause auf und hat Euch die Mission, mit der Ludwig Euch betraut
hatte, ungemein erleichtert.«
Ich war sekundenlang baff, so bewunderte ich dieses fabelhafte Gedächtnis. Doch wußte ich auch, daß der Kardinal, wenn ich
so sagen darf, das Räderwerk regelmäßig schmierte, indem er jeden Morgen eine Seite Latein auswendig lernte. Und bemerkenswert
ist, daß es sich nicht um Kirchenväter handelte, sondern um Titus Livius, Cäsar oder Cicero, politische Schriftsteller, in
seinen Augen die einzigen
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