Kardinal vor La Rochelle
mit der so schönen und von ihm doch so
wenig gewürdigten Aussicht – nur von den fünfzig Wachsoldaten umgeben gewesen, die er auf Geheiß des Königs im September 1626
hatte rekrutieren müssen, um sich vor Mordanschlägen zu schützen.
Nun waren der Kardinalsgarde nicht weniger als dreihundert Königliche Musketiere hinzugesellt, und nach ihren mißtrauischen
und wachsamen Mienen zu schließen waren sie jede Minute auf einen Überfall gefaßt. Dreimal, an drei aufeinanderfolgenden Sperren,
verlangten sie unsere Passierscheine, bevor wir Richelieus Haus betreten durften. Und auf dem Rückweg erfuhr ich von Nicolas,
daß er auf dem Weg zum Pferdestall von Kopf bis Fuß durchsucht worden war, ebenso die Sattelbäume unserer Tiere.
»So sind eben Soldaten!« sagte Nicolas. »Entweder sie tun zu wenig, oder sie tun zuviel.«
»Nicolas«, sagte ich mit gespieltem Ernst, »du kannst dich drauf verlassen, daß ich einem gewissen Hauptmann der Musketiere
dein ketzerisches Wort wiederholen werde.«
»Von ihm habe ich es doch«, sagte Nicolas.
Ich lachte, und er lachte, und beide freuten wir uns unseres guten Einvernehmens. Das einzige, was mich dabei zwickte, war
der Gedanke, daß Nicolas mich eines Tages, und eines sehr baldigen Tages, verlassen würde, um zu den Musketieren des Königs
zu gehen, wo ihm unter der Führung seines Bruders sicherlich die schöne Karriere winkte, die er ob seiner Tugenden verdiente.
Aber wie würde ich ihm dann nachtrauern, und wo fände ich je einen zweiten Nicolas!
Später erfuhr ich den Grund der erhöhten Wachsamkeit um Richelieus Haus. Der Kardinal unterhielt etliche Spitzel, um die Rochelaiser
auszuspionieren, und einige dieser Schlauberger |95| hatten den Rochelaisern weisgemacht, daß sie für sie spionierten. Derweise ins Vertrauen gezogen, hatten sie erkundet, daß
an der Küste vor Pont de Pierre demnächst drei- bis vierhundert englische Soldaten mit ihren Galioten oder Pinassen bei Nacht
und Nebel landen würden, um die Wachen des Kardinals zu überrumpeln und den Kardinal zu entführen.
Während ich wartete, bis Richelieu mich vorließe, plauderte ich mit Charpentier, den ich seit dem fehlgeschlagenen Hinterhalt
von Fleury en Bière liebte und schätzte.
»Ach, Herr Graf!« sagte Charpentier, als ich ihn nach dem Ergehen des Kardinals fragte, »es geht ihm so gut, wie es einem
Gottesgeschöpf gehen kann, das nicht von früh bis spät, sondern von einer Frühe bis zur nächsten arbeitet.«
»Schläft er denn nie?«
»Drei, vier Stunden dann und wann, die er seiner ungeheuerlichen Fron abzwackt. Wißt Ihr, was Malherbe gerade über ihn geschrieben
hat?«
»Nein.«
»Es ist ein Gedicht, das so beginnt: ›Große Seele, den großen Werken ohn’ Unterlaß ergeben.‹«
»Ist Malherbe etwa hier?«
»Er ist vorgestern eingetroffen und scheut keine Mühe. Er, der so langsam schreibt, hat bereits zwei Gedichte verfaßt, eins
an den König gerichtet, das andere an den Kardinal.«
»Und was sagt er dem König?«
»›Nimm deine Blitze, Ludwig, und versetz wie ein Löwe dem letzten Haupt der Rebellion den letzten Schlag.‹ Um Vergebung, Herr
Graf, weiter weiß ich nicht.«
»Schön«, sagte ich, »das sind gut gebaute Verse. Und wie geht es unserem Dichter in seiner leiblichen Hülle?«
»Leider noch schlechter als dem Doktor Héroard, dem es gar nicht gut geht. Ihr wißt ja, das Feldlager ist der reinste Morast
und kein gesegneter Ort für so alte Herren. Wenn ich mich nicht täusche, ist Malherbe über siebzig und Doktor Héroard siebenundsiebzig.
Sie säßen besser in Pantoffeln am heimischen Feuer und tränken Kräutertee.«
»Mein Freund«, sagte ich, »könntet Ihr mir die beiden Gedichte aufschreiben? Ich möchte sie auswendig lernen, damit ich sie
später meinen Kindern und Enkeln hersagen kann.«
Merkwürdig, dachte ich, daß ich hier von meinen Kindern |96| und Enkeln sprach, obwohl ich nicht einmal verheiratet war. »Mit dreißig Jahren!« pflegte mein Vater bei solcher Gelegenheit
auszurufen, ohne höflicherweise jedoch mehr hinzuzufügen. Aber sein »Mit dreißig Jahren!« lag mir auf der Seele, mehr allerdings
noch der tausendmal vernommene väterliche Grundsatz: »Die erste Pflicht eines Edelmannes ist es, seine Nachkommenschaft zu
sichern.«
Charpentier willigte in meine Bitte ein.
»Wißt Ihr, Herr Graf«, fuhr er fort, »daß Malherbe nicht der einzige große Mann ist, den wir hier
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