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Kardinal vor La Rochelle

Kardinal vor La Rochelle

Titel: Kardinal vor La Rochelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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Treppe zu uns herabgeschritten. Ich fand ihn sehr mager und sehr schweigsam, ohne daß ich hätte sagen können,
     ob seine Magerkeit dem Hunger und seine Schweigsamkeit der natürlichen Abneigung des Belagerten gegen den Belagerer zuzuschreiben
     waren. Allerdings kannte er |160| bereits unsere Namen und Titel und brauchte sie nur noch laut und deutlich zu wiederholen, als wir den großen Saal des Hauses
     betraten, um uns der Herzogin vorzustellen, die sehr aufrecht in einem großen Lehnsessel mit so reichem Schnitzwerk saß, daß
     er wie ein Thron anmutete. Rechts und links der Herzogin saßen auf Schemeln zwei Personen weiblichen Geschlechts, deren eine
     um die Vierzig sein mochte, während die andere, deren Sitz sich wunderbarerweise dem von Nicolas gegenüber befand, wunderschön
     und von blühender Jugend war. Wir unterließen keine der respektvollen Reverenzen, die wir den hohen Damen schuldeten, legten
     in sie aber jene Nuance von Zärtlichkeit, die wir bei ihrem liebenswürdigen Anblick empfanden, und diese schien mir bei keiner
     der drei vergeudet.
    Die Herzogin antwortete mit gnädigem Kopfnicken auf meine Begrüßung, ohne mir aber die Hand zum Kuß zu reichen, womit sie
     zu verstehen gab, daß ich immerhin zum Lager der Feinde ihrer Stadt und ihrer Religion gehörte.
    Obwohl sie derzeit schon mindestens siebzig war und das Alter ihr Haupt beschneit, ihre Wangen und ihren Hals schlaff gemacht
     hatte, besaß sie doch ein sehr angenehmes Gesicht und schöne blaue Augen, die zugleich Kraft und Milde ausstrahlten.
    In Paris sagte man über die Herzogin von Rohan, sie sei ihrem Gemahl zu Lebzeiten sehr treu gewesen, aber sehr untreu seinem
     Gedenken nach dem Tod. Doch war dies reine Verleumdung, falls Verleumdung denn rein sein kann. Die Dame war viel zu hochgesinnt,
     eine viel zu gute Protestantin und Wächterin ihres Rufs, um sich zu Torheiten herabzulassen. Die einzige Erklärung, die ehrenhafte
     Leute für diesen boshaften Klatsch fanden, war, daß Frau von Rohan die Männer liebte und in ihrer großen Unschuld keinen Hehl
     daraus machte, was unseren Damen am Hof sicherlich nicht unterlaufen wäre.
    »Graf«, sagte sie mit wohlklingender Stimme, »ich hätte Euch hier gerne in einer weniger traurigen Lage willkommen geheißen.
     Aber der Herr hat es leider so gewollt, um uns für unsere Sünden zu strafen, und niemand weiß, was er über sein Volk noch
     beschlossen hat: ob es untergehen muß oder gerettet wird. Hier ist«, fuhr sie ohne Übergang fort, »mir zur rechten meine Tochter
     Anne und zur linken meine Verwandte, Mademoiselle |161| de Foliange, die mich zu ihrem Unglück vor Kriegsbeginn besuchen kam und nun in unseren Mauern mit eingeschlossen ist, aber
     ganz ungerechterweise, denn da sie nicht der reformierten Religion angehört, muß sie sogar den Trost ihres Glaubens in den
     Prüfungen entbehren, die sie mit uns durchlebt.«
    Ich erlaubte mir, nach Anne von Rohan nun auch Mademoiselle de Foliange zu begrüßen und einige Sekunden zu betrachten, was
     sie aber gar nicht störte, denn seit unserem Eintritt hingen ihre Augen so gebannt an Nicolas, daß alles andere im Saal, auch
     ihre Verwandte Anne und ich ihrer Aufmerksamkeit entschwunden war. Was meinen Nicolas anging, so war er ebenso leidenschaftlich
     in ihre Betrachtung versunken und schon derart gefangen, daß er sehr erstaunt gewesen wäre, hätte ich ihm in Erinnerung gerufen,
     daß er sich im Hôtel Rohan und in Gegenwart einer hohen Dame befand, die allerdings viel zu naiv war, um zu bemerken, was
     kaum einen Klafter von ihr zwischen den beiden geschah.
    »Graf«, sagte Frau von Rohan, »kommen wir ohne Umschweife zum Gegenstand Eures Besuchs. Beantwortet Ludwig mein Ersuchen gnädig,
     die Frauen und Kinder aus La Rochelle hinauszulassen?«
    »Madame«, sagte ich, »der König war als guter Christ durch Euer Ersuchen höchst beunruhigt und fragte sich nicht ohne tiefe
     Beklommenheit, wie er es erwidern solle. Einerseits, da Frauen und Kinder ja keine Waffen tragen, kann man sich fragen, ob
     es gerecht und menschlich sei, daß sie die Nöte und Gefahren einer Belagerung erleiden, die sehr wahrscheinlich lang und mörderisch
     sein wird. Andererseits aber wurde dieser Krieg von den Rochelaisern eingeleitet, als sie die Engländer dabei unterstützten,
     sich auf der Insel Ré zu halten, und sich mit ihnen verbündeten in dem erklärten Ziel, La Rochelle und das Land Aunis der
     Herrschaft des Königs von Frankreich

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