Karibische Affaire
Aber Mr Rafiel winkte ihm ungeduldig ab, worauf Jackson sich in Richtung Hotel entfernte.
Miss Marple wollte keine Zeit verlieren, denn Mr Rafiel blieb nie lange allein. Wahrscheinlich würde ihm Esther Walters bald Gesellschaft leisten. Jetzt aber war es noch möglich, allein mit ihm zu sprechen, freilich ohne langwierige Einleitungen, denn Mr Rafiel hatte nichts übrig für das müßige Geplapper alter Damen. So entschloss Miss Marple sich, niedergeschlagen auszusehen.
Sie ging auf ihn zu, zog einen Stuhl heran, setzte sich und sagte: »Ich hätte Sie gern etwas gefragt, Mr Rafiel.«
»Na schön«, knurrte Mr Rafiel, »schießen Sie schon los. Was möchten Sie – soll’s für die armen Negerkinder sein, oder für eine Kirchenrenovierung?«
»Solche Dinge«, sagte Miss Marple, »liegen mir mehrere am Herzen, und es wird mich freuen, wenn Sie dafür etwas geben wollen. Aber eigentlich wollte ich Sie etwas anderes fragen. Sagen Sie, hat Major Palgrave Ihnen jemals eine Geschichte über einen Mord erzählt?«
»Oho«, sagte Mr Rafiel. »Ihnen hat er sie also auch erzählt? Und Sie haben sie ihm mit allem Drum und Dran abgenommen?«
»Ich wusste wirklich nicht, was ich davon halten sollte«, sagte Miss Marple. »Was hat er Ihnen erzählt?«
»Ach, er quatschte mir was vor von irgendeinem reizenden Geschöpf«, sagte Mr Rafiel, »schön und jung und blondhaarig – die reinste Lucrezia Borgia!«
»Oh«, meinte Miss Marple etwas verblüfft, »und wen hat sie umgebracht?«
»Ihren Mann natürlich«, sagte Mr Rafiel, »wen sonst?«
»Vergiftet?«
»Nein, ich glaube, ein Schlafmittel hat sie ihm gegeben, und ihn dann in den Gasofen gesteckt. Talentiertes Frauenzimmer! Dann hat sie’s als Selbstmord hingestellt. Sie ist recht glimpflich davongekommen, bedingt zurechnungsfähig, so nennt man das ja heutzutage, wenn man eine hübsche Larve hat oder so ein bedauernswertes Muttersöhnchen ist!«
»Hat Ihnen der Major kein Foto gezeigt?«
»Von dem Frauenzimmer? Nein, warum?«
»Oh«, sagte Miss Marple nur.
Sie war ziemlich außer Fassung geraten. Offenbar hatte der Major die Leute nicht nur mit Geschichten von erlegten Tigern und gejagten Elefanten unterhalten, sondern auch mit der Beschreibung von Mördern, denen er begegnet war! Möglicherweise hatte er ein ganzes Repertoire von Mordgeschichten gehabt! Man musste das ins Auge fassen.
Ein plötzlicher Ruf Mr Rafiels schreckte sie auf: »Jackson!«
Keine Antwort.
»Soll ich ihn suchen gehen?«, fragte Miss Marple und erhob sich.
»Sie finden ihn nicht, der strolcht wieder irgendwo in der Gegend herum! Nicht viel wert, der Kerl, charakterlich. Aber er sagt mir zu.«
»Ich werd’ ihn lieber doch suchen gehen«, sagte Miss Marple. Sie fand Jackson auf der anderen Hotelseite, wo er mit Tim Kendal bei einem Drink saß.
»Mr Rafiel braucht Sie.«
Jackson schnitt eine viel sagende Grimasse, kippte sein Glas hinunter und stand auf.
»Also, dann gehen wir eben«, sagte er. »Keinen Frieden geben kann dieser… zwei Telefonate und eine Diätbestellung – da müsste doch ein Alibi für eine Viertelstunde herausspringen! Aber nein! – Danke, Miss Marple – und vielen Dank auch für den Drink, Mr Kendal.« Damit trollte er sich.
»Der Junge tut mir leid«, meinte Tim. »Von Zeit zu Zeit muss ich ihn mit einem Drink aufmuntern. Darf ich auch Sie zu etwas einladen, Miss Marple – vielleicht zu einem Glas frischer Limonade, die trinken Sie doch gern?«
»Vielen Dank, aber im Moment lieber nicht – ich kann mir schon vorstellen, dass es einen aufreibt, wenn man jemanden wie Mr Rafiel zu betreuen hat! Kranke sind oft schwierig!«
»Das allein ist es nicht – bei dieser guten Bezahlung nimmt man sehr vieles mit in Kauf, und außerdem ist der alte Rafiel gar kein so schlechter Kerl. Ich habe eher gemeint – « er zögerte. Miss Marple blickte ihn fragend an.
»Ja – wie soll ich sagen – für Jackson ist es in gesellschaftlicher Hinsicht schwierig. Die Leute sind so versnobt, und es gibt hier niemanden aus seiner Klasse. Er steht zwar über einem Diener, ist aber weniger als ein Durchschnittsgast – zumindest stuft man ihn hier so ein. Etwa wie eine viktorianische Gouvernante. Sogar die Sekretärin, Mrs Walters, fühlt sich ihm übergeordnet. So etwas kann das Leben schon erschweren!« Tim machte eine Pause und meinte dann mitfühlend: »Wirklich schrecklich, diese gesellschaftlichen Probleme in so einem Hotel!«
Eben kam Dr. Graham vorbei, ein Buch in der
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