Karibische Affaire
die sonst so heitere junge Frau nicht. Ihre Unglücksmiene veranlasste Miss Marple zu sagen:
»Meine Liebe, ist etwas geschehen?«
Molly nickte. Zögernd sagte sie: »Nun, Sie müssen es erfahren wie jeder andere auch. Major Palgrave ist tot.«
»Tot?«
»Ja. Während der Nacht gestorben.«
»Ach meine Liebe, das tut mir aber leid!«
»Ja, es ist schrecklich, besonders hier. Ein Todesfall deprimiert die Leute so. Anderseits – bei dem Alter…«
»Gestern war er noch springlebendig!«, sagte Miss Marple. Diese stillschweigende Gewohnheit, in jedem Menschen vorgerückten Alters gleich einen Todeskandidaten zu sehen, wurmte sie. »Wirklich, er kam mir noch recht rüstig vor!«, fügte sie hinzu.
»Aber der hohe Blutdruck«, sagte Molly.
»Da gibt es heutzutage doch Mittel dagegen – irgendwelche Pillen. Beim heutigen Stand der Wissenschaft…«
»Das schon – aber vielleicht hat er vergessen, die Pillen zu nehmen? Oder er hat zu viele genommen? Beim Insulin ist das ja auch so.«
Miss Marple war nicht der Meinung, dass Diabetes und übermäßiger Blutdruck ein und dasselbe wären. Sie fragte:
»Was sagt denn der Arzt dazu?«
»Oh, Dr. Graham, der ja praktisch schon im Ruhestand ist und im Hotel wohnt, hat ihn sich angesehen. Auch die Ortsbehörden waren schon da, um den Totenschein auszustellen. Es schient alles ganz normal zu sein, so etwas kann eben vorkommen, wenn man hohen Blutdruck hat und zu viel trinkt. Major Palgrave trieb es ja recht arg, erst gestern Nacht zum Beispiel.«
»Ich hab’s bemerkt«, sagte Miss Marple.
»Und da wird er vergessen haben, seine Pillen zu nehmen. Traurig für den alten Herrn – aber wer lebt schon ewig? Für mich und Tim ist das Ganze natürlich schrecklich unangenehm! Die Leute könnten glauben, das Essen sei schuld.«
»Aber die Symptome einer Speisevergiftung sind doch ganz andere!«
»Das schon, aber was wird nicht gleich alles geredet! Und wenn die Leute wirklich dem Essen die Schuld geben – und weggehen – oder es ihren Bekannten weitersagen – «
»Wer wird sich denn solche Sorgen machen«, sagte Miss Marple. »Wie Sie sagten, ein älterer Mann wie Major Palgrave – er muss doch schon über Siebzig gewesen sein – kann leicht sterben, daran wird niemand etwas finden. Ein trauriger, aber ganz alltäglicher Fall!«
»Wenn es nur nicht so plötzlich gekommen wäre«, sagte Molly unglücklich.
Ja, es war ungewöhnlich plötzlich gekommen, überlegte Miss Marple im Weitergehen. Den Abend hatte er noch in bester Laune mit den Hillingdons und den Dysons verbracht!
Diese Hillingdons und Dysons… Miss Marple ging noch langsamer und hielt schließlich an. Statt zum Badestrand zu gehen, wählte sie ihren Platz in einer schattigen Ecke der Terrasse. Dort packte sie ihr Strickzeug aus, und bald darauf klapperten die Nadeln so rasch, als gelte es, mit den jagenden Gedanken ihrer Besitzerin Schritt zu halten. Denn etwas gefiel ihr nicht, nein, etwas gefiel ihr nicht an diesem Todesfall! Er kam irgendjemandem gar zu gelegen…
Sie überdachte den gestrigen Tag.
Da waren diese Geschichten von Major Palgrave. Sie waren gewesen wie immer, man brauchte nicht so genau hinzuhören… Trotzdem, vielleicht wäre es besser gewesen!
Von Kenia – ja, er hatte von Kenia erzählt. Dann von Indien, von der Nordwestgrenze – und dann waren sie aus irgendeinem Grund auf Mord zu sprechen gekommen. Aber auch da hatte sie nicht wirklich zugehört…
Irgendein berühmter Fall, der hier draußen geschehen war und von dem die Zeitungen berichtet hatten.
Und später, als er sich nach ihrem Wollknäuel gebückt hatte, war von einem Foto die Rede gewesen: »Wollen Sie das Bild eines Mörders sehen?« – das hatte er gesagt!
Miss Marple schloss die Augen und versuchte sich den Wortlaut der Geschichte ins Gedächtnis zu rufen.
Es war eine eher wirre Geschichte gewesen, die der Major im Club gehört hatte, ein Arzt hatte sie von einem anderen Arzt, und der eine Arzt hatte von jemandem, der aus seiner Haustür gekommen war, eine Aufnahme gemacht – und dieser Jemand sollte einen Mord begangen haben. Ja. Das war es. Jetzt fielen ihr auch die Einzelheiten wieder ein.
Und dann hatte der Major ihr das Foto zeigen wollen. Er hatte seine Brieftasche gezogen und begonnen, ihren Inhalt nach dem Bild zu durchsuchen. Dabei hatte er die ganze Zeit geredet.
Und dann, immer noch redend, hatte er aufgeblickt – nicht auf sie, sondern auf jemanden hinter ihr, hinter ihrer rechten Schulter,
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