Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
dass Abby missbraucht worden war. An dem Abend, an dem sie auf die Kleine aufgepasst hatte, spürte sie deutlich, dass etwas nicht stimmte. Sie erzählte mir, wie sie als Mädchen zwangsverheiratet worden war und dass sie bei Abby eine Befangenheit und Sprachlosigkeit wahrnahm, die sie selbst nur zu gut kannte. Ich hörte schweigend zu und glaubte, den Verstand zu verlieren. Was weiß sie sonst noch?, überlegte ich krampfhaft. Da ich diese Sache nicht auf sich beruhen lassen konnte, blieb mir gar keine andere Wahl: Ich musste noch mal töten. Zu dumm, dass ich mir nicht eins von Reeds Messern beschaffen konnte.« Er schüttelte den Kopf. »Alles ging aus den Fugen.«
Von da an hörte ich ihm nicht mehr zu. Stattdessen kehrte ich in Gedanken in Chalis Apartment zurück, suchte sie, fand sie tot im Badezimmer vor. Warum hatte ausgerechnet sie dieses grausame Schicksal ereilen müssen? Auf einmal konnte ich all das nicht mehr ertragen. Ich sprang auf und stürmte aus dem Zimmer.
* * *
Später am Abend, nachdem wir die Kinder ins Bett gebracht hatten, setzte ich mich mit Mac an den Küchentisch und erfuhr, wie der Rest des Verhörs verlaufen war. Wir hatten uns schon vor dem Abendessen einen Drink gegönnt und genehmigten uns nun noch einen. Bedauerlicherweise konnte keine noch so große Menge Alkohol mich derart benebeln, dass die Wahrheit nicht schmerzte.
Laut Pater X war Steve Campbell ein wahrer Facebook-Experte gewesen. Die CCU, die endlich nachgewiesen hatte, dass der Account, von dem aus Abbys Seite manipuliert und verwaltet worden war, Steve gehörte, stützte diese Behauptung. Er war es auch gewesen, der die wiederaufgetauchten Mädchen und Frauen ausfindig machte, während Reed sie zum Schweigen brachte. Gemeinsam erschufen sie das Szenario eines Serienmörders, um die Ermittlungsbeamten von dem eigentlichen Hintergrund dieser Morde abzulenken: Steve, Reed und die gemeinsamen Reisen nach Brasilien waren das, was die Mädchen miteinander verband. Im Grunde genommen fungierten die zwei als Reiseveranstalter für eine spezielle Klientel: amerikanische Männer, die auf Sex mit Kindern standen. Jahr für Jahr flogen fünfzehn bis zwanzig Männer nach Miami, bestiegen eine gecharterte Yacht und schipperten auf dem Atlantik nach Süden. Eine Woche verbrachten sie zusammen an Bord und gingen ihrem verabscheuungswürdigen Vergnügen nach. Danach nahmen sie wieder ihr normales Leben auf und spielten den braven Ehemann, treusorgenden Vater, Banker, Arzt, Lehrer, Nachbarn oder Freund.
KAPITEL 27
Bens Geburtstag fiel auf einen Sonntag. Als Mac und ich uns kurz nach neun aus dem Bett mühten, war Dathi bereits aufgestanden und in der Küche zugange. Der köstliche Duft von frischem Puri wehte in unser Schlafzimmer. Dieses Brot aus Indien hatte sie vor einiger Zeit schon einmal zubereitet. Damals hatten wir alle zugesehen, wie sich die goldenen Teigfladen in der Pfanne aufblähten, und ich hatte mir vor lauter Gier nach dem heißen Brot den Mund verbrannt, was mir heute garantiert nicht ein weiteres Mal passieren würde.
Im Bademantel gingen wir in die Küche. Ben, der neben ihr auf einem Stuhl am Herd stand, trug noch seinen karierten Pyjama, in dem er immer wie ein kleiner Gentleman aussah. Schon vier Jahre alt ... Ich konnte es nicht fassen.
»Alles Gute zum Geburtstag!« Ich drückte ihm einen Kuss auf den verstrubbelten Haarschopf.
»Alles Gute zum Geburtstag, Mommy.«
»Heute ist dein Geburtstag, Dummerchen.« Lachend wendete Dathi ein Puri, das knisternd im Öl briet. »Nur deiner.«
Während Dathi die letzten Fladenbrote zubereitete, machte Mac Rühreier, und ich setzte Kaffee auf. Dann wusch ich die Erdbeeren, die ich am Vortag als besondere Leckerei gekauft hatte. Da sie im Winter extrem teuer waren, aßen wir sie in dieser Jahreszeit selten. Kurze Zeit später saß unsere vierköpfige Familie am Tisch. Davon hatte ich schon vor sechs Monaten geträumt – mit einem Unterschied: Die Tochter im Traum war eine andere gewesen. Und doch sah es ganz so aus, als würde Dathi langsam eine von uns werden. Wir hatten Anwälte in beiden Ländern engagiert und alle offiziellen Adoptionsunterlagen zusammengetragen. Bislang hatten weder Onkel Ishat, das indische Konsulat noch die indische Regierung Einwände erhoben. Offenbar interessierte sich – bis auf uns – keiner für dieses zwischen den Welten treibende Mädchen, das mir und inzwischen auch Mac sehr am Herzen lag.
Mom, die gerade noch rechtzeitig kam,
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