Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
zu atmen. Meine Vorahnung hatte sich bewahrheitet: Chali war tatsächlich tot ... wie all die anderen jungen Frauen. Und ich war hierhergekommen, um mich davon zu überzeugen, dass meine Befürchtung unbegründet war, doch stattdessen ...
Wie ferngesteuert suchte ich in meiner Handtasche nach dem Handy. Ich staunte über die prosaischen Dinge, die sich in der Tasche befanden, und konnte mich auf einmal nicht mehr rühren.
Nach einer Weile ging ich zum Fenster, trat in den hereinfallenden Sonnenstrahl und holte mein Handy heraus. Ich drückte die Kurzwahltaste, unter der ich Mac abgespeichert hatte, und als ich den Ansagetext seiner Mailbox hörte, war ich so perplex, dass ich nur unzusammenhängend vor mich hinplapperte. Danach tippte ich auf die Taste für Billy. Ich hätte natürlich die Nummer des Notrufs wählen sollen, aber ich konnte einfach nicht mehr klar denken. Mehr noch: Mein Verstand funktionierte gerade nicht.
Nebenan lag Chali tot in der Wanne.
Im Badewasser, das ihr Blut rot gefärbt hatte. Wie lange lag sie schon dort? Seit Montagnacht? Falls das zutraf, hatte sie sechsunddreißig Stunden lang tot in ihrer Wohnung gelegen, und keiner hatte es bemerkt. O Gott! Hätte ich mich heute nicht aufgerafft, um nach ihr zu sehen – wie lange hätte es wohl gedauert, bis dieser grauenvolle Geruch in den Hausflur gedrungen wäre und ihre Nachbarn alarmiert hätte?
»Hallo, Karin«, meldete sich schließlich Billy.
»Er hat sie umgebracht«, sagte ich mit tonloser Stimme.
»Hä ... Was redest du da?«
»Er. Er war hier.«
»Wo steckst du?«
»In Chalis Wohnung. Ich wollte nach ihr sehen.«
Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen in der Leitung.
»Ich hätte den Notruf -«
»Ich kümmere mich darum. Verlass die Wohnung, Karin. Auf der Stelle.«
Wie in Trance bewegte ich mich durch Chalis Schlafzimmer. Das Gehen war äußerst mühselig, und gleichzeitig fühlte ich mich schwerelos. Die Vorhangperlen hinter mir machten ein Geräusch, das mich an Wellenbrecher erinnerte. Und dann stand ich wie gebannt in ihrem Wohnzimmer und glaubte, den Verstand zu verlieren. Chali. Der Prostituiertenmörder hatte seine ausgetretenen Pfade verlassen, sich über seine eigene Logik hinweggesetzt und einen Menschen ermordet, der gar nicht in sein Muster passte. Diesmal hatte er jemanden getötet, den ich schätzte und mochte ... hatte mich da mit reingezogen ... All das ergab überhaupt keinen Sinn.
Warum?
Weshalb Chali?
Und wieso gerade jetzt?
Ich hob den Blick und stellte fest, dass ich vor einem Foto von Dathi stand. Jetzt durfte ich es nicht anfassen, denn ich befand mich an einem Tatort. So beugte ich mich vor und studierte das Gesicht des Mädchens. Von der Mutter hatte Dathi die großen dunklen Augen, die schmale Nase und dieses verschmitzte Grinsen geerbt, als würde sie gerade einen Witz zum Besten geben. Doch ihr Gesicht war breiter als das von Chali und ähnelte vermutlich dem des Vaters, der – wie ich aus Erzählungen wusste – die Mutter während der Schwangerschaft wiederholt geschlagen hatte. Dathis sanfter Blick erinnerte mich an Chali, und ich hätte wetten können, dass auch sie eine gute Seele war. Ich neigte mich weiter vor. Ja, Chali hatte sich glücklich schätzen können. Immerhin war ihr eine Tochter vergönnt gewesen ... Aber das Schicksal hatte es mit ihrer Tochter nicht so gut gemeint, denn deren Mutter lag nun tot in der Wanne.
Wie würde sie die Nachricht aufnehmen, dass sie nun eine Waise war und in Zukunft bei einer gebrechlichen Großmutter leben musste, die ohne Chalis finanzielle Unterstützung nicht in der Lage war, ihre Enkelin großzuziehen? Dabei war das Geld noch das kleinste Problem, denn ich war durchaus in der Lage, ihr finanziell zu helfen. Aber alles andere? Wer würde Dathi und ihrer Oma beibringen, dass sie einen geliebten Menschen verloren hatten? Und wer nahm die Bürde auf sich, ihnen begreiflich zu machen, wie Chali gestorben war?
Das Läuten der Klingel riss mich aus meinen Überlegungen. Mein Blick löste sich von dem Foto und wanderte zu der offen stehenden Wohnungstür. Wieder läutete es, und ich hörte, wie unten jemand versuchte, die Haustür zu öffnen. Neben der Tür entdeckte ich eine alte Gegensprechanlage und drückte eine Taste.
»Hallo?«
»Polizei.«
Ich öffnete die Haustür und hörte im nächsten Moment, wie mehrere Personen die Treppe im Laufschritt nach oben stürmten.
Die Beamten würden den Tatort sichern, Chalis Leichnam in die
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