Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
Zukunft für sich und ihre Tochter hinarbeitete. Jemanden wie sie musste man einfach bewundern. Als ich den heruntergekommenen Block zwischen der 4th und 5th Avenue entlangging, wo ihr Wohnhaus lag, spürte ich deutlich, wie sehr sie mir ans Herz gewachsen war, wie sehr ich ihr vertraute, wie wichtig sie mir war.
Ich blieb vor ihrem vierstöckigen Gebäude mit der Vortreppe und der grün-roten Schachbrettfassade stehen, holte ihre Schlüssel aus der Handtasche hervor und suchte ihren Namen auf den Klingelschildern. Drei waren mit anderen Namen versehen, auf dem vierten stand nichts. Ich läutete, wartete, läutete eine Minute später noch mal und schloss schließlich die Tür auf.
Der Eingangsbereich war schäbig, aber nicht dreckig. Jemand machte hier offenbar regelmäßig sauber und hatte versucht, mit einem Plastikblumenstrauß samt Vase und einem Poster von einem griechischen Dorf den engen Flur etwas schöner zu gestalten. Oben in der dritten Etage ließ der Ammoniakgeruch nach. Vor der Wohnungstür standen Chalis schwarze Stiefel, von denen einer umgefallen war. Obwohl ich mit keiner Reaktion rechnete, klopfte ich vorsichtig an. Nach ein paar Augenblicken steckte ich den Schlüssel ins Loch. Die Tür ging auf, ehe ich ihn ganz umgedreht hatte.
»Chali?« Ich setzte meinen Fuß in ein kleines Wohnzimmer. Vor den pinkfarbenen Wänden türmten sich Regale, die randvoll mit Büchern waren. »Ich bin’s, Karin. Bist du da?«
In der Wohnung herrschte eine beklemmende Stille. Die Vorahnung, die mich hierhergeführt hatte, dieses ungute Gefühl, das ich als unbegründet abgetan hatte, verstärkte sich. Während ich in Chalis Wohnzimmer zwischen ihren Habseligkeiten stand – den Büchern auf Englisch und Hindi, einer Art Manuskript, einem kleinen schwarzen Adressbüchlein und zahllosen Fotos von Dathi, die ich von den Bildern kannte, die Chali mir gezeigt hatte -, steigerte sich meine Furcht ins Unermessliche.
Schweren Herzens durchquerte ich das Wohnzimmer.
Die bunten Holzperlen des im Türrahmen befestigten Vorhanges klimperten leise, als ich in ihr winziges Schlafzimmer ging.
Auf der breiten Matratze auf dem Boden lag eine weiße Chenille-Tagesdecke, und am Kopfende lehnte ein halbes Dutzend bunter Kissen an der Wand. Über dem provisorischen Bett hing ein großes, rundes Bild von einer gelben Wasserlilie. An der gegenüberliegenden Wand stand eine alte Holzkommode, über der Chali ein Jesusbild angebracht hatte. Auf der Kommode stand ein gerahmtes Foto, das vom Bett aus gut zu sehen war. Darauf abgelichtet waren Dathi und eine ältere Frau, wahrscheinlich Chalis Mutter: Sie trug einen himmelblauen Sari, und ihre stahlgrauen Haare waren hinten zu einem Knoten gebunden. In dieser Wohnung spürte man sofort, dass sie Chali gehörte: Diese Mischung aus Tatendrang, Familiensinn und Frömmigkeit war ganz typisch für sie. Die Jeans und der Pullover, die sie am Montag getragen hatte, lagen auf der Matratze, ihre Socken daneben auf dem Boden. In der Ecke neben dem Fenster stand eine Tür einen Spaltbreit offen.
Langsam näherte ich mich ihr und spähte durch den Spalt. Mein Blick wanderte über weiße Badezimmerfliesen, die Toilette und einen grünen Badewannenvorleger.
»Chali?«, flüsterte ich. Nach einem anstrengenden Tag badete sie gern, weil es sie entspannte. Hatte sie am Montagabend, ehe sie sich verabschiedete, nicht davon gesprochen? Oder lag sie womöglich gerade in der Wanne und hatte deshalb nicht gehört, wie ich läutete und ihre Wohnung betrat?
»Chali?«
Ich stieß die Tür auf und zwängte mich in das beengte Badezimmer. Neben der Toilette gab es ein kleines Waschbecken, auf dem eine rote Plastikbürste mit schwarzen Haaren lag. Ich trat einen Schritt zur Seite, um die Tür zu schließen, damit ich die Wanne sehen konnte, als mir ein grauenvoller Geruch in die Nase stieg.
Dann entdeckte ich Chali. Sie war so weit nach unten gerutscht, dass nur noch ihre Knie aus dem dunkelrot gefärbten Wasser ragten.
Mein Blick fiel auf den Griff eines Messer, das in ihrer Brust steckte. Der Anblick kam mir vertraut vor. So ein Griff hatte auch in dem Leichnam der noch nicht identifizierten Toten in der Nevins Street gesteckt: Er gehörte zu jenen seltenen Jagdmessern, mit denen der Prostituiertenmörder seine Opfer abstach.
Ich taumelte rückwärts aus dem Bad und kämpfte gegen das Schwindelgefühl an. Da ich wie Espenlaub zitterte, ließ ich mich auf der Matratze nieder. Vergeblich versuchte ich, ruhig
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