Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
glaubte ich, dass auch er mich für eine Journalistin hielt. Und dann kamen Billy und La-a herangebraust. Sie hielt hinter Georges Wagen und sprang aus dem Auto, ohne richtig einzuparken.
Billy kam im Laufschritt auf mich zu und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Wie steht’ s?«
»Detective George Vargas ist gerade nach oben gegangen.«
»Vom 72.?«
Revier, meinte er. »Ja.«
»Karin.« La-a stellte sich zu uns, schüttelte den Kopf und zog ungehalten die Mundwinkel nach unten. »Das tut mir wirklich sehr leid. Bin ich ihr mal begegnet?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich nicht.«
Sie schüttelte ein weiteres Mal den Kopf und ging dann auf die Haustür zu. Billy und ich folgten ihr. Jemand hatte einen Backstein besorgt und zwischen Türblatt und Rahmen gelegt, damit sie nicht zufiel.
»War die zu?«, fragte La-a.
»Hier unten musste ich aufschließen«, antwortete ich, »aber Chalis Wohnungstür war offen.«
»Wurde eingebrochen?«
»Nein, glaube ich nicht.«
»Wie ist das Arschloch diesmal reingekommen?« La-a ging in den Flur und inspizierte die Tür von innen.
»Entweder hat ihm jemand aufgemacht, oder ein Bewohner hat aufgeschlossen, und der Täter ist ihm unbemerkt gefolgt«, mutmaßte Billy und ging ebenfalls hinein.
Ich folgte den beiden in den Flur und die Treppe hoch. Eine Etage höher sprach ein Polizist mit einem korpulenten Mann im weißen Unterhemd, der aussah, als hätte man ihn aus dem Schlaf gerissen.
»Sind Sie um diese Uhrzeit immer daheim?«, hörte ich den Polizisten fragen.
»Nein, erst seit kurzem.« Den starken Akzent des Mannes konnte ich nicht einordnen. »Habe letzten Monat meinen Job verloren.«
»Waren Sie Montagabend zu Hause?«
»Ja, abends bin ich meistens hier.«
»Ich habe nach Montagabend gefragt.«
»Ja, Sir.«
»Haben Sie etwas gehört?«
»Nein, nichts. Ich habe nichts gehört.«
Der Polizist gab ihm eine Visitenkarte und bat ihn, sich zu melden, falls ihm noch etwas einfallen sollte. Der Mann schloss hastig die Tür. Einen Augenblick später tauchte eine Frau in einem billigen Schürzenkleid und mit Lockenwicklern und Lippenstift auf. Sie weinte.
»Nicht Miss Chali!« Sie warf sich fast dem Polizisten an den Hals, der gerade kehrtgemacht hatte und nun am Treppenabsatz stand. »Bitte, sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist?«
»Tut mir leid, Lady.« Er ließ sie einfach stehen.
La-a folgte ihm nach oben und verdrehte die Augen. Billy nickte der Frau zu, als er an ihr vorbeiging, und ich berührte im Vorbeigehen ihre Schulter.
»Wohin des Weges?«, fragte mich La-a, als sie sich umdrehte. Offenbar hatte sie jetzt erst bemerkt, dass ich ihnen nachlief.
»Sie war schon oben«, verteidigte Billy mich. »Also, was soll’s?«
Eigentlich widerstrebte es mir, in Chalis Apartment zurückzukehren. Aber ich machte mir wegen Billy Sorgen und wollte vermeiden, dass er am Tatort ohne moralische Unterstützung war.
La-a grinste höhnisch. »Na gut.«
Angesichts der vielen Ermittler und Mitarbeiter der Spurensicherung, die ihrer Arbeit nachgingen oder einfach nur dastanden und sich unterhielten, wirkte die kleine Wohnung völlig überfüllt. George Vargas’ Gestalt war hinter dem Perlenvorhang zu erkennen. Seinen orangefarbenen Pappbecher hatte er auf das Manuskript gestellt, das auf dem Tisch lag. Entsetzt lief ich hinüber, um den Becher wegzuräumen. Gerade als ich die Hand nach ihm ausstreckte – mein Blick fiel dabei auf die oberste Seite des Manuskripts, auf die Chali von Hand ein Gedicht geschrieben hatte -, blaffte La-a mich an.
»Was treibst du da, Mädchen?«
»Der Becher gehört dem Detective, und ich wollte bloß -«
»Nee!« Sie wedelte mit dem erhobenen Zeigefinger. »Du müsstest es eigentlich besser wissen.«
Ich trat von dem Gedicht und dem Becher zurück und verkniff es mir, Besitzansprüche auf Chalis Hinterlassenschaft zu erheben. Kleinlaut stellte ich mich hinter Billy.
Und da lag sie: in einem noch nicht geschlossenen schwarzen Leichensack auf einer Rollbahre. Nur dass dieser aufgedunsene Körper mit der aufgeschlitzten Brust nicht mehr Chali war. Jemand hatte das Messer entfernt und für die Spurensicherung eingepackt. Der Gestank war noch schlimmer als zuvor. Ich wandte mich jäh ab und drückte die Nase an Billys Schulter. Durch den Stoff seiner Jacke spürte ich deutlich, wie stark er zitterte. Ich hob den Blick. Seine Miene sprach Bände. Sein Gesicht war von Schweißperlen überzogen, seine linke Pupille auf die Größe eines
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