Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
dem Sofa übernachtete? Sogleich schlug ich ihr vor, einen Film anzuschauen. Sie war einverstanden.
»Wo wohnt Chali eigentlich?«, fragte meine Mutter, während ich eine DVD in den Player schob.
»Sunset Park.«
»Liegt das in Brooklyn?«
Ich nickte. »Ist nur fünfzehn Minuten von hier entfernt.« Chalis Apartment war mit dem Auto, Bus oder der U-Bahn tatsächlich in einer Viertelstunde zu erreichen, und nun überlegte ich, ob ich nicht kurz bei ihr vorbeischauen sollte.
»Bestimmt hat sie auch die Grippe gekriegt und liegt jetzt flach.«
»Sie hat sich impfen lassen, und außerdem hätte sie mir in dem Fall Bescheid gegeben.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.«
Was, wenn Mom recht hatte? Es konnte durchaus sein, dass Chali trotz der Impfung erkrankt war. Oder es gab irgendein Problem mit Dathi, ihrer Tochter. Plötzlich ging die Phantasie mit mir durch: Gerade noch hatte ich mir vorgestellt, wie sie mit hohem Fieber im Bett lag, und nun malte ich mir aus, wie sie aus einem mir unbekannten Grund in der indischen Botschaft Hilfe suchte. Vielleicht war mit dem Visum, das sie für ihre Tochter beantragt hatte, irgendetwas schiefgelaufen? Nein, das Visum war erteilt, das Flugticket gekauft, alles detailliert geplant worden. Ich schloss die Augen und bemühte mich, die aufkommende Hypernervosität – die Angst, dass jeder Tag mit einer neuen Katastrophe aufwartete – in den Griff zu bekommen.
Chali ging es gut.
Und sie würde sich morgen bei mir melden.
Wenn ich ehrlich zu mir war, hatte meine momentane Verfassung mehr mit mir als mit Chali zu tun. Das, was mich wirklich quälte, waren meine eigenen Ängste, die gerade wieder aufkeimten. Immer wieder musste ich an die Todesfälle denken, die sich in den vergangenen beiden Tagen ereignet hatten. An die Dekkers, an die Prostituierte. Und an die kleine Abby ... Jedes Mal wenn ich mich fragte, ob sie noch im Koma lag, ob sie überhaupt noch am Leben war, bekam ich rasende Kopfschmerzen. Der Verlust einer Tochter ließ mich in ein tiefes Loch fallen. Ob es sich dabei um ein fremdes Kind handelte oder meine eigenen Töchter – das war vollkommen bedeutungslos.
Ich sagte meiner Mutter, dass ich kurz ins Bad gehen würde, sie jedoch die DVD nicht anhalten sollte. Anschließend suchte ich das Badezimmer auf und nahm dort zwei Ibuprofen ein. Da der Film mich eh nicht fesselte, schlich ich in die Küche, schloss leise die Tür und rief Billy an.
»Störe ich gerade?« Im Hintergrund hörte ich Stimmen und Gelächter.
»Nein, eigentlich nicht. Ich bin gerade in Long Island auf der Vorweihnachtsparty, die meine Schwester Janine jedes Jahr schmeißt.«
»Bist du allein?«
»Ja, im Schlafzimmer.«
»Läuft da ein Fernseher?«
»Ich sehe mir ein Spiel an.«
»Du gehst allen Ernstes auf eine Party, stiehlst dich davon und schaust fern?«
»Lasse ich mich nicht blicken, hält sie mir das auf immer und ewig vor, und das ist die ganze Sache nicht wert. Mann, ich bin hundemüde. Letzte Nacht habe ich kaum geschlafen.«
»Hast du die POPPA-Nummer angerufen, die ich dir gegeben habe?«
Er stöhnte. »Noch nicht, aber -«
»Billy!«
»Ich rufe dort schon noch an«, versprach er, allerdings in einem Tonfall, der mich das Gegenteil vermuten ließ.
»Wohin bist du gestern Abend nach der Preisverleihung gegangen?«
»Nach Hause. Nur dass ich einen kleinen Umweg und einen Zwischenstopp eingelegt habe. Habe mir ein paar Flaschen Bier genehmigt, war vor Mitternacht zu Hause und bin gegen fünf eingeschlafen. Zwei Stunden später hat schon der Wecker geklingelt.« Er hielt inne, trank etwas und schluckte. »Mir geht das nicht aus dem Kopf, weißt du?«
Ja, das glaubte ich ihm gern. Ich wusste, dass er mit seiner letzten Äußerung nicht nur auf die jüngsten drei Gewaltverbrechen anspielte, sondern auch auf seine Reisen in die Vergangenheit und die Frau, die er geliebt und die einen Mordanschlag auf ihn verübt hatte.
»Wie geht es Abby? Warst du noch mal bei ihr?«
»Nein. Dafür habe ich noch mal mit dieser Sasha gesprochen. Keine Veränderung. Nichts. Und es gibt auch keinerlei Hinweise auf mögliche Verdächtige. Vom Labor, das Abbys Kleidung untersucht, habe ich auch noch nichts gehört. Darauf müssen doch Partikel von dem Fahrzeug sein, mit dem das Mädchen angefahren wurde. Wir brauchen dringend einen Anhaltspunkt, um loslegen zu können.«
»Hab noch ein bisschen Geduld«, versuchte ich ihm Mut zu machen.
»Ja. Im Normalfall ...«
»Was ist mit der
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