Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Familie, machen die Geschichte der Merowinger nicht übersichtlicher: »Die Chronologie ihrer Könige lässt sich kaum mehr rekonstruieren«, so der Bonner Mediävist Matthias Becher. Die Herkunft des Geschlechts verliert sich ganz im Quellennebel.
Der frühmittelalterliche Chronist Fredegar leitet sie auf einen König Chlodio zurück und ein an der Rheinmündung hausendes Seeungeheuer: »Man erzählt, Chlodio habe sich einmal im Sommer mit seiner Gattin an den Meeresstrand begeben; als seine Gemahlin mittags zum Baden hinauswatete, habe ein Meerungeheuer mit Stierkopf sie angefallen. Ob sie nun daraufhin von dem Untier oder von ihrem Mann empfing – sie gebar jedenfalls einen Sohn mit dem Namen Meroveus (Merowech), nach dem später die Könige der Franken Merowinger genannt wurden.« Eine ähnlich phantasievolle Variante verbreitete der US-Schriftsteller Dan Brown in seinem 2004 erschienenen Thriller »Sakrileg«: Danach hatte Jesus Christus heimlich Kinder gezeugt, und deren Nachkommen seien die Merowinger gewesen.
Plausibler klingt die Version, wonach jener König Childerich, dessen Grab 1653 zufällig in Tournai gefunden wurde, Nachkomme eines gewissen Merowech gewesen sein soll, der in einem Teil des heutigen Belgiens herrschte. Das könnte so gewesen sein, zumal da Childerich auch in Quellen als Verwalter und militärischer Befehlshaber der römischen Provinz Belgica Secunda genannt wird.
So jedenfalls hat es der Chronist Gregor von Tours aufgeschrieben, der wichtigste und für weite Teile einzige zeitgenössische Berichterstatter. Der Bischof lebte Mitte bis Ende des 6 . Jahrhunderts, und er hinterließ ein umfangreiches Werk, dessen Wahrheitsgehalt indes kaum überprüfbar ist. Vieles konnte auch er nur aus zweiter oder dritter Hand kennen, und seine lebendigen Erzählungen sind gut gewürzt mit phantastischen Sagen. Andere – halbwegs belastbare – Quellen aus jener Zeit gibt es kaum; die meisten Schriftstücke gingen verloren oder wurden zerstört. Was zum Teil auch daran lag, dass vielfach auf ägyptischem Papyrus geschrieben wurde – kein Material, das im europäischen Klima Jahrhunderte übersteht. Haltbarer waren da schon jene Holz- und Wachstäfelchen, wie Gregor von Tours sie benutzte. Umso wertvoller sind die Erkenntnisse von Ausgrabungen und Zufallsfunden. Archäologen können Auskunft geben über Sitten und Bräuche, Kunst, Handwerk, Religion, Lebensumstände und Herrschaftsriten.
Die Grabkammer König Childerichs gilt denn auch bis heute als eines der wichtigsten Zeugnisse der Merowinger-Zeit – »so etwas wie der Idealfall für den Historiker, in Schriftquellen genannt und durch Ausgrabungen bestätigt«, meint die Münchner Frühmittelalterforscherin Martina Hartmann. So weiß man nun, dass die ersten Merowinger noch heidnischen Glaubens waren. Ihrer Überzeugung nach gab es ein Weiterleben nach dem Tod, vergleichbar dem irdischen Dasein. Nicht anders sind die umfangreichen Grabbeigaben zu deuten, die bei Childerichs Überresten gefunden wurden. Auch dass der König im Dienste Roms stand, kann als gesichert gelten: Sein Siegelring zeigt, er muss auf irgendeine Art mit Schriftstücken zu tun gehabt haben – das war aber damals nicht der Franken Art. Dem toten Herrscher beigelegte Goldmünzen entstammten ebenfalls römischer Prägung. Vielleicht war es der Sold für einen gemeinsamen Feldzug gewesen, den Childerich im Jahr 463 an der Seite des gallischen Heermeisters Aegidius und dessen Sohn Syagrius gegen die Westgoten geführt haben soll.
Bald danach brach die römische Ordnung in Gallien vollends zusammen, und vielerorts drangen fränkische Stämme in das entstehende Machtvakuum. Die Merowinger übernahmen dabei nicht nur weite Teile der Infrastruktur, sondern auch das bewährte Steuersystem. Acker- und Weidegeld, Schweinezehnt und Banngelder sowie Kopf- und Grundsteuer spülten zuverlässig Geld und Naturalien in ihre königlichen Kassen.
Noch wichtiger für die Stabilität des sich langsam herausbildenden Reiches war aber, dass sich die heidnischen Franken langsam dem Christentum zuwandten. Den entscheidenden Schritt dazu wagte Childerichs Sohn Chlodwig, der nach dem Tod seines Vaters 481 / 482 erst 16 -jährig den Thron bestieg. Er sollte zum berühmtesten Spross der Sippe heranwachsen, der das Frankenreich formte und die Basis für die darauffolgenden Jahrhunderte legte. Er muss ein tückischer und rachsüchtiger Mensch gewesen sein, dessen Macht auf Angst und wohl auch auf
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