Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
sich unter anderem darin, dass es Grafschaften praktisch nur auf ehemals karolingisch kontrolliertem Gebiet gibt. Mit der Bildung Karls aber wuchsen auch seine Ansprüche. Er kannte die christlichen Weltgeschichtsentwürfe des Orosius und des Augustinus, und nun konnte er aufzählen: Ich habe Gallien, ich habe Nordspanien bis zum Ebro, ich habe Italien, ich sitze sogar in Rom. Und ich habe die Sachsen besiegt, was kein Augustus schaffte. Ich bin so gut wie die Römer, vielleicht besser! 798 kommt dann eine Gesandtschaft aus Byzanz; die einzige erhaltene Quelle gibt als Zweck der Reise an, »ut traderent ei imperium«: die Delegation trägt Karl im Namen der Kaiserin Irene die Herrschaft an. Keiner weiß, was damit genau gemeint war, aber für Karl muss die Sache klar gewesen sein.
SPIEGEL: Imperium, das heißt doch Kaisertum?
FRIED: Genau – auch wenn das natürlich nicht sofort alles änderte. Immerhin, beim Ausbau Aachens kam Material aus Rom und Ravenna zum Einsatz. Ich finde auch die Vermutung plausibel, dass er Aachen zu einem zweiten Rom machen wollte, es gibt dafür einige Anzeichen. So wird ein Gebäudeteil dort »Lateran« genannt – eine Bezeichnung, die damals wirklich nur in Rom vorkommt –, und die Raumgliederung ähnelt in vielem der römischen.
SPIEGEL: Karl scheint enorm symbolbewusst gewesen zu sein; da zählten auch kleinste Fortschritte. Hieß nicht schon sein Vater Pippin »Patricius Romanorum«?
FRIED: Das ist ein Lehrstück der Symbol-Präzision. Als Papst Stephan Ende Juli 754 Pippin und seine beiden Söhne zum zweiten Mal salbt, verleiht er dem Frankenkönig diesen Titel. Es ist eine Gegenleistung für die kürzlich ausgesprochene sogenannte Pippinsche Schenkung großer Teile Mittelitaliens, die allerdings vorerst noch langobardisch sind. Aber kein Karolinger führte dann die Bezeichnung! Erst nachdem Karl der Große 7 74 die Langobarden besiegt und wirklich Rom betreten hatte, erst von da an nannte er sich Patricius Romanorum, für immer.
SPIEGEL: Karl war 774 wohl nicht einmal eine ganze Woche in Rom.
FRIED: Immerhin betrat er als erster westlicher Herrscher nach Theoderich die Stadt, nach einem Vierteljahrtausend. Ich habe seinen Weg vor Ort einmal rekonstruiert. Er war gespickt mit Herrschaftssymbolik: Von Sankt Peter, wo er aus Verehrung für den größten Heiligen der Stadt wohnte, zog Karl über das Marsfeld, am Fuß des Kapitols entlang, über das Forum Romanum, durch den Titusbogen, am Kolosseum und an San Clemente vorbei. Und was sah er vor dem Lateran? Das Reiterstandbild Kaiser Konstantins. Ihn erkannte man nämlich in der großartigen Bronzefigur, die heute auf dem Kapitolsplatz zu sehen ist – in einer Nachbildung, das Original steht im Museum nebenan – und längst als Marc Aurel identifiziert ist.
SPIEGEL: Große Vorbilder überall. Immerhin, das war Rom, und seine eigenen Titel und Rechte mochte der Herrscher noch im Kopf haben. Aber was geschah anderswo? Die Details des Reiches kannte niemand genau, zudem änderte sich natürlich regional dauernd irgendetwas. Stand dem Herrscher wenigstens ein Archiv zur Verfügung?
FRIED: Wohl allenfalls in Ansätzen. Karl und sein Hof zogen ja fast unentwegt umher, da konnte man nur die wichtigsten Dinge mitnehmen. Im Wesentlichen musste sich der König auf die Leute vor Ort, ihre Zeugnisse und ihre Glaubwürdigkeit verlassen.
SPIEGEL: Auch auf die Organisation in den Pfalzen, oder?
FRIED: Und ob, das war kompliziert. Es ging um 1000 bis 2000 Menschen – wie viele Ochsen essen die täglich, wie viel Getränk brauchen sie? Wie viel Heu und Weideplatz benötigen die Pferde? Das alles, inklusive Transport und Vorrat, musste jeweils im Voraus organisiert werden. Die Gegend litt darunter gewöhnlich sehr: »Den König habe zum Freund, aber nicht zu Gast«, heißt es in einem alten Sprichwort. Wenn Karl seine letzten 20 Jahre weitgehend in Aachen verbringt, beweist schon das die große Organisationsfähigkeit seiner Hofmannschaft – obgleich es keinen einzigen konkreten Beleg gibt.
SPIEGEL: Auch die fast jährlichen Kriegszüge forderten genaue Vorbereitung. Weiß man da mehr?
FRIED: Es kam darauf an, dass die örtlichen Großen zustimmten; ohne sie ließ sich nichts ausrichten. Eine allgemeine Wehrpflicht gab es nicht. Die Heere waren ohnehin nicht groß: Maximal, so schätzt man, umfassten alle mobilisierbaren Kampftruppen 10 0 00 Mann, schon weil immer die Hälfte der Wehrfähigen als Heimatschutz zurückbleiben musste. Man
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