Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
keine abgepackten Wahrheiten ausstellen, erst recht keine Lehrsätze servieren, sondern Neugier wecken: Neugier auf Zusammenhänge, die in der heutigen Informationsflut oft genug entgleiten, Neugier, die im Nachempfinden des Vergangenen vielleicht, ja hoffentlich den sachlich-kritischen Blick auf Gegenwart und Zukunft ein wenig schärfen hilft. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!
Hamburg, im Herbst 2013
Dietmar Pieper
Johannes Saltzwedel
TEIL I
MYTHOS KARL
Der heilige Barbar
Noch wundersamer als das Leben Karls des Großen war und ist sein Nachleben.
Von Dietmar Pieper
Der Mann hat viele Leute aufgeregt, noch lange nach seinem Tod. Das ist bestimmt nicht das Übelste, was man über einen mittelalterlichen Herrscher sagen kann. Als Sachsenschlächter wurde Karl der Große angefeindet, als dekadenter Unhold, der in großem Stil Verderben über die Welt gebracht hat. Aber noch häufiger wurde er als Inbegriff eines vorbildlichen Monarchen verehrt, als Gründervater Deutschlands und Frankreichs, als wahrhafter Europäer. Er wurde zur Hölle gewünscht und heiliggesprochen (wenn auch nicht vom Papst persönlich).
Als Erster aus dem barbarischen Volk der Franken hat er die römische Kaiserwürde erlangt – und damit einen Reichsmythos begründet, der bis ins 20 . Jahrhundert hinein wirkte. Der Weihnachtstag des Jahres 800 , an dem der Papst den Frankenkönig zum Imperator erhob, ist ein Schlüsseldatum der Weltgeschichte. Aber wie und warum es geschah, ob mit strategischer Absicht, zufällig oder sogar gegen Karls Willen, das ist eine offene Frage. Niemand hat der Nachwelt den Gefallen getan, unparteiisch Protokoll zu führen. Was übrig blieb an Aufzeichnungen von damals, sind gewöhnlich Propagandawerke, die auch noch lückenhaft sind.
Natürlich gibt es sie, die Spuren seines herrschaftlichen Lebens: Urkunden auf Pergament, die von den Taten und Befehlen des mächtigen Mannes künden. Silberne Münzen mit seinem Bildnis, dessen Züge aber wahrscheinlich frei erfunden sind. Einige Prachtbauten in Aachen, ein paar Mauerreste in Ingelheim am Rhein und anderes mehr. Historiker und Archäologen haben mit viel Mühe allerhand Überreste und Dokumente aus der Zeit vor 1200 Jahren zusammengetragen. Aber eigentlich ist es furchtbar wenig. Das einzige Zeugnis, das mit Sicherheit von Karls eigener Hand stammt, ist ein keilförmiger Strich in seiner Signatur, ein Häkchen der Beglaubigung in der Mitte jenes berühmten Namenszeichens, das seine Schreiber für ihn angefertigt haben: Karolus.
Unterzeichnungssymbol Karls auf einer Urkunde von 779 über die Schenkung eines Waldes bei Saint-Denis. Nur der innere Haken in der Monogramm-Raute stammt vom Herrscher selbst, der Rest des Dokuments ist von Kanzlisten und Schreibern verfertigt.
RMN-Grand Palais/Art Resource, NYImage
Die Autoren dieses Buches haben den Versuch unternommen, ein möglichst realistisches Bild des Herrschers und seiner Zeit zu entwerfen. Sie haben von führenden Experten in Aachen Neuigkeiten erfahren und in Saint-Denis bei Paris die lange Vorgeschichte der fränkischen Karolingerdynastie erkundet. Die alten Quellen standen ihnen ebenso zur Verfügung wie eine unübersehbar reichhaltige Forschungsliteratur. Auf dieser Grundlage zeichnen sie den geheimnisvollen Aufstieg der merowingischen Könige nach, sie beschreiben den Zusammenprall von islamischer und christlicher Welt im frühmittelalterlichen Europa, sie beleuchten die Beziehungen der fränkischen Herrscher zum alten Kaiserreich Byzanz und zum Kalifen von Bagdad, sie schreiten den erstaunlichen intellektuellen Horizont dieser Epoche ab, die gar nicht so dunkel war, wie viele glauben. Und sie gehen aus unterschiedlichen Blickwinkeln der Frage nach, wer dieser Karl wohl gewesen ist:
Ein ausdauernder und auch brutaler Krieger, der nur in 2 seiner 46 Herrschaftsjahre keine Feldzüge geführt hat? Gewiss. Ein Lebemann und Frauenheld mit einer unüberschaubar großen Anzahl Nachkommen? Ja klar. Ein gläubiger Christ, der sich mit allen Mitteln für die Verbreitung seiner Religion eingesetzt hat? Das auch. Außerdem ein kaltschnäuziger Politiker und ein warmherziger Familienmensch.
Aber Karl wäre nicht so groß, wie er uns heute noch vorkommt, wenn auf sein erfülltes und farbiges Leben nicht ein noch reicheres Nachleben gefolgt wäre. Jede Zeit hat sich ihren eigenen Karl geschaffen; seit zwölf Jahrhunderten wächst Schicht um Schicht das Sediment der Erzählungen und Mythen über den
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