Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
bewegte sich mit Ochsenkarren fort, die mit Glück 20 Kilometer am Tag bewältigten.
SPIEGEL: Und damit über die Alpen? Es muss unendlich mühsam gewesen sein.
FRIED: Das war es. Karls Heer zog 773 in zwei Säulen über den Mont Cenis und den Großen Sankt Bernhard, um dann gegen die Langobarden einen Zangenangriff zu starten. Eine noch größere Leistung war die Belagerung von Pavia, neun Monate lang! Die Königin kam sogar im Lager nieder! Unglaublich.
SPIEGEL: Was für eine Sprache hat Karl denn gesprochen?
FRIED: Obwohl er vermutlich bei Paris geboren wurde, dürfte seine Muttersprache das Moselfränkische gewesen sein, also ein althochdeutscher Dialekt. Er konnte sicher Latein, soll ja sogar ein bisschen Griechisch verstanden haben. Wie weit er Westfränkisch, also ein frühes Französisch, gesprochen hat, weiß ich nicht. Seine Enkel beherrschten es, sie waren also mindestens dreisprachig.
SPIEGEL: Für komplexere Verhandlungen setzte er wohl Fachleute ein.
FRIED: Ja, und zwar exzellente. Paulus Diaconus aus Monte Cassino oder Paulinus von Aquileia, aber auch die übrigen seiner Berater sind kluge Köpfe. Sein Vetter Adalhard von Corbie ist ein hochintelligenter Bursche, der souverän mit Zahlen und mit dem Kalender umgehen kann; dessen Halbbruder Wala ist noch genialer – ich vermute, dass er der politische Kopf hinter der größten Fälschung der Weltgeschichte war, den »Pseudo-isidorischen Dekretalen«, einer riesigen, lange Zeit sehr einflussreichen Kirchenrechtssammlung.
SPIEGEL: Wenn so viele erstklassige Köpfe ihn berieten, weshalb gelang es dann nicht, die Erbfolge besser zu regeln?
FRIED: Er hat sich schon mit aller Kraft darum bemüht. In den späteren Jahren hat er keine legitimen Kinder mehr gezeugt. Im Jahr 806 verfasste er ein regelrechtes politisches Testament, das nach dem unumgehbaren fränkischen Recht drei Reichsteile vorsah, und er beschwor mehrfach den Frieden.
SPIEGEL: Vergebens – trotz der schrecklichen Erfahrungen früherer Generationen. War auch Unglück mit im Spiel?
FRIED: Der jüngere Karl, dem das Kernland zugedacht war, hat offenbar nie etwas von einer Frau wissen wollen und starb schon 811 , ein Jahr nach seinem Bruder Pippin von Italien. Von Ludwig dem Frommen hielt der Herrscher wohl wenig; Ludwig jedenfalls hat seinen Vater gehasst. Er war mit drei Jahren zur Erziehung quasi nach Aquitanien verbannt worden, dem am wenigsten bedeutenden Teil des Reiches – das fördert kaum die Elternliebe.
SPIEGEL: Fest steht: Nach Ludwig dem Frommen zerfiel das Karolingerreich, so wie zuvor die Merowinger-Herrschaft in Bruderkriege und Papierkönigtum abgeglitten war. Seine Vision von Europa konnte Karl den Erben offenkundig nicht weitergeben.
FRIED: Hatte er denn eine? Ich bin da mehr als skeptisch. Europa, das ist hier letztlich eine Metapher ohne politischen Inhalt. Erfolgreich zum Gründerhelden Europas erklärt hat man Karl den Großen bezeichnenderweise erst im »Dritten Reich«.
SPIEGEL: Haben nicht schon zeitgenössische Chronisten in Karl das »Haupt Europas« gefeiert?
FRIED: Solche Rhetorik blieb auf wenige Schreibstuben beschränkt; eine emphatische oder gar imperiale Vision Europas war damit ohnehin nicht verbunden. Hitler dagegen fühlte sich als neuer Karl der Große: 1943 entstand ein Teller aus Sèvres-Porzellan, der vorn die bekannte Reiterstatuette Karls zeigt und auf der Rückseite eine Inschrift, die besagt: Was 843 geteilt wurde, hat Adolf Hitler mit den Völkern Europas jetzt wieder vereinigt. Dabei ist klar, dass der totalitäre Anspruch des NS-Regimes der kulturellen Vielfalt, die wir heute als schützenswert ansehen, massiv widerspricht.
SPIEGEL: Und was ist mit dem Aachener Karlspreis, finden Sie den auch suspekt? Was soll an einer Leitfigur für Europa schlecht sein?
FRIED: Es funktioniert mit der Symbolgestalt doch nicht. Bei den Franzosen ist und bleibt Charlemagne ausschließlich französisch, die Briten können mit Karl nichts anfangen, und für die globalisierte Welt taugt er identifikatorisch schon gar nicht. Der große tschechische Historiker František Graus, ein mahnender Zweifler, hat nüchtern festgestellt: Karl als Europäer, dieser Irrtum wird genauso vorübergehen wie alle anderen Versuche, ihn zum Idealtypus zu machen.
SPIEGEL: Sie lassen uns also mit dem Rätsel Karl allein?
FRIED: Nein, ich möchte ihn aus seiner Gegenwart verstehen. Da ist Karl nun wirklich schon groß genug. Man braucht ihn nicht noch zum Symbol
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