Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Paris durch die Berufung auf den Frankenkönig nach höchsten Weihen. Im Gründungsmythos der Hochschule, deren tatsächliche Anfänge im 12 . Jahrhundert liegen, wurde erzählt, kein Geringerer als Karl habe Paris auf Empfehlung seines Beraters Alkuin zum Studienort für die Gelehrten bestimmt.
Später versuchten deutsche Humanisten, den Spieß umzudrehen. Am Beispiel der Pariser Universität argumentierten sie: Das, worauf die Franzosen so stolz seien, ihre gelehrte Bildung, verdankten sie einem Deutschen – nämlich Karl.
Beistand für die kühne These, der Franke sei ein Deutscher gewesen, kam von einem Italiener. Der große Gelehrte Enea Silvio Piccolomini, der als Papst Pius II. 1458 den Heiligen Stuhl bestieg, rühmte Karl als »Germanus« und mahnte: »Euch aber, Ihr Deutschen, verpflichtet die Güte Gottes noch mehr durch eine besondere Ehre: Denn ER (Gott) hat Euch vor allen Stämmen, Völkern und Nationen ausgezeichnet, indem ER Euch ihnen allen vorgesetzt hat.« Nicht jeder hörte so etwas nördlich der Alpen gern. Bald schon wurde mit derben Worten über alles geschimpft, was nach päpstlichem Segen roch. Der Reformator Martin Luther attackierte nicht nur den Vatikan seiner Zeit, sondern griff weit in die Geschichte zurück, an den Ursprung des Reiches. Papst Leo III. habe Karl am Weihnachtstag 800 übertölpelt, als er ihm die Kaiserkrone aufsetzte, verkündete Luther. Karls Erhöhung von Leos Gnaden sei »erlogen und gantz ein Bebstisch gewesch« gewesen; schließlich habe der wahre Kaiser in Konstantinopel regiert.
Auch der Charlemagne der Franzosen war nicht auf alle Zeiten sakrosankt. Mitte des 1 8 . Jahrhunderts listete der Aufklärer Voltaire mit Verve das ganze Sündenregister des Imperators auf: Durch ihn habe die Kirche ihre verhängnisvolle weltliche Macht erlangt. Dabei sei er ein frömmelnder Heuchler gewesen, der sich mit mehreren Frauen zugleich vergnügt habe und sogar der Blutschande verdächtig sei. Der angeblich so große Monarch müsse als Despot und Usurpator gelten, ein wahrer Repräsentant des finsteren Mittelalters. Voltaire versäumte es nicht, auf ein besonders dunkles Kapitel in Karls Biografie hinzuweisen: seinen brutalen Krieg gegen die Sachsen. In Deutschland hatte deshalb bereits Gottfried Wilhelm Leibniz seine Stimme erhoben. Zwar hielt der Universalgelehrte alles in allem am üblichen Loblied fest. Aber die überlieferte Hinrichtung von 4500 Sachsen bei Verden an der Aller sei eine barbarische Tat gewesen, die Karl zu ewiger Schande gereiche.
Im 19 . und 20 . Jahrhundert wurde das Wort vom »Sachsenschlächter« dann ein fester Begriff. Das Zerrbild eines verweichlichten Despoten zeichnete der völkische Dichter Hermann Löns in seiner 1907 erschienenen Erzählung »Die rote Beeke«. Der damals vielgelesene Autor beschreibt den Tag, »da das Wasser der Beeke rot floss, weil König Karl es gebot«. Die Darstellung des Monarchen ist auf grelle Weise eindringlich: »Aus der purpurnen, scharlachbespannten, goldverzierten Sänfte steigt mühsam, von hohen Herren gestützt, stöhnend und seufzend der König; Südlands Wein und Südlands Weiber machten seine Glieder lahm.«
Ehe solche Anfeindungen in Umlauf kamen, hatte die Karlsverehrung allerdings einen weiteren Höhepunkt erreicht. Ein Franzose gönnte sich die große Geste.
Nach seinem rasanten Aufstieg erklärte Napoleon Anfang des 19 . Jahrhunderts: »Je suis Charlemagne« (»Ich bin Karl der Große«). Er habe »die Krone Frankreichs mit jener der Lombarden wiedervereinigt«, rühmte er sich. Feierlich besuchte Napoleon 1804 mit seiner Gemahlin Josephine die Karlsstadt Aachen; der dortige Bischof schenkte Josephine unter anderem ein Armreliquiar des großen Imperators (es war bereits leer und steht heute im Louvre). So lud sich der selbstgekrönte Kaiser mit Legitimität auf.
Ein anderer Emporkömmling suchte ebenfalls historischen Halt bei Karl. Adolf Hitler dozierte 1942 : »Karl der Große war einer der größten Menschen der Weltgeschichte, da er es fertiggebracht hat, die deutschen Querschädel zueinanderzubringen.« Den Frankenherrscher und seine Nachfolger betrachtete Hitler als Vorbilder: »Wenn wir überhaupt einen Weltanspruch erheben wollen, müssen wir uns auf die deutsche Kaisergeschichte berufen.« Hitlers Verbeugung vor Karl war für die NS -Elite keineswegs selbstverständlich. Der zeitweilige Widersacher des Franken, Sachsenherzog Widukind, erfreute sich unter national gesinnten Deutschen großer
Weitere Kostenlose Bücher