Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
alten Kaiser. Zwei Nationen führen ihre Anfänge auf diesen einen Mann zurück, Carolus magnus, und oft genug wurde Charlemagne ebenso kompromisslos zum Franzosen gemacht, wie ihn die Geschichtsdeuter nebenan zum Deutschen erklärten.
Diesseits wie jenseits des Rheins blieb Karl als Held einer Fülle von Sagen und Legenden populär, wobei die erzählerischen Motive mühelos die nationale Schranke übersprangen. Szenen von Krieg, Treue und Verrat, die zuerst auf Französisch in den hochmittelalterlichen »Chansons de geste« ausgeschmückt wurden, dienten in Deutschland noch nach dem Zweiten Weltkrieg als Vorlage für Margarine- oder Zigarettenbildchen zum Sammeln. Etwas historischen Glanz hat man sich auch in anderen Ländern, deren Gebiete einst zu Karls Reich gehörten, vom großen Frankenherrscher versprochen. Die Belgier glaubten im 19 . Jahrhundert, seinen Geburtsort in der Nähe von Lüttich finden zu können. Und das kleine Volk der Andorraner ehrt ihn noch heute in seiner Nationalhymne: »El gran Carlemany, mon Pare dels àlarbs em deslliurà« singt man dort auf Katalanisch, »Karl der Große, mein Vater, befreite mich von den Sarazenen«.
Schon zu karolingischen Zeiten war es von der Propaganda zum Mythos nur ein kleiner Schritt. Das 536 Verse umfassende Karlsepos aus dem 9 . Jahrhundert preist den Herrscher in hohem Ton und beschreibt unter anderem die Begegnung zwischen dem König und Papst Leo III. in Paderborn. Als der Kirchenfürst von den Franken mit allen Ehren empfangen wird, heißt es: »Karl erstrahlt inmitten des Heeres, frohgemut; golden deckt der Helm das Haupt, glanzvoll erscheint er in der Waffenrüstung, ein riesiges Ross trägt den gewaltigen Führer.« Der anonyme Lobredner des Monarchen hatte keine Scheu, dick aufzutragen. Er rühmt Karl als »erhabenen Leuchtturm« und »Vater Europas«. Da ist sie also, wohl zum ersten Mal in der Geschichte: die ominöse Floskel vom Ahnherrn eines ganzen Kontinents. Heute hängt sie Karl an wie der Rauschebart, den er auf den meisten der allesamt frei erfundenen Porträts trägt (wahrscheinlich trug er einen Schnurrbart).
Damals freilich war Europa nur ein Wort unter vielen. Auch wenn es zu einer festen Gewohnheit geworden ist, den Imperator aus dem frühen Mittelalter als europäischen Gründervater zu betrachten – mit der historischen Wirklichkeit hat das wenig zu tun. Der Historiker Johannes Fried hält die karolingischen Europa-Anspielungen für bloße Rhetorik, die »auf wenige Schreibstuben beschränkt blieb«. Und Frieds Kollege Michael Borgolte meint trocken: »Von einer klaren Vorstellung über Europa kann weder in der Zeit Karls des Großen noch in den späteren Jahrhunderten die Rede sein.«
Bis weit in die Neuzeit hinein war anderes wichtiger: Karl wurde zu einer Sagengestalt, die mit ihrer ritterlichen Lebensführung, manchmal auch durch übermenschliche Kräfte Bewunderung erregte. Europa blieb eine seltene Vokabel.
Etwa 50 Jahre nach Karls Tod schrieb ein Kleriker aus Mainz eine angebliche Vision des großen Frankenkönigs nieder. Das stolze Reich war zerfallen, die zermürbenden Erbstreitigkeiten der nächsten Karolinger-Generationen nahmen kein Ende. In der »Visio« kommt die Sehnsucht nach einem geeinten Frankenreich zum Ausdruck; Schlüsselszene ist eine Traumsequenz, in der dem großen Karl ein Schwertträger erscheint. Auf der Schneide sind die rätselhaften Worte »raht, radoleiba, nasg, enti« eingraviert, die der König mit Hilfe seiner Ratgeber zu deuten versucht. Schließlich muss er erkennen, welches Unheil seine zerstrittenen Erben anrichten werden. Mit einem leichter zugänglichen Werk erschrieb sich dann bald ein Mönch aus St. Gallen einen Namen. Notker, genannt »der Stammler«, trug in Hülle und Fülle Anekdoten zusammen, in denen »der weiseste der Könige« stets Bella figura macht. Schön zu lesen, wenn auch historisch wertlos, entfalteten die »Gesta Karoli Magni« beachtliche Langzeitwirkung.
Einheitliche Worte und Werte nach christlichem Maß sollten in Karls Reich gelten. Zum Erneuerungsprogramm zählten die Abschriften wichtiger Texte sowie eine Münzreform, die bis heute nachwirkt. Auf diesen zwei Seiten des Lorscher Evangeliars sieht man den Anfang des Johannes-Evangeliums mit dem Bild des Evangelisten und seinem Symboltier, dem Adler.
AKG
Wie sehr Karl im Lauf des Mittelalters zum Mythos wurde, zeigt beispielhaft die Geschichte von den Neun Guten Helden (französisch »Les Neuf Preux«) aus dem
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