Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Popularität. Widukind und seine Sachsen wurden als kernige Germanen verehrt, die den Welschen zum Opfer gefallen waren. Hitlers Propagandist Joseph Goebbels notierte im April 1942 : »Erhebliches Aufsehen hat in der deutschen Öffentlichkeit unsere vollkommene Kurswendung in der Beurteilung Karls des Großen erregt.« In den letzten Kriegsmonaten trug eine Division der Waffen- SS , in der vor allem französische Freiwillige kämpften, den Namen Charlemagne. Dann war der Krieg vorbei, Europa lag in Trümmern. Und obwohl die Nazis den Namen Karls besudelt hatten, war er noch gut genug, den Weg in eine neue Zeit zu weisen.
Im Aachen der Nachkriegszeit kamen einige Lokalpatrioten auf die Idee, aus Karl einen politischen Heiligen zu machen. Der 1950 erstmals verliehene Karlspreis, unterstützt vom städtischen Amt für Wirtschaftsförderung, wurde zu einer erstaunlichen Erfolgsgeschichte. Die Liste der Preisträger umfasst so illustre Namen wie Adenauer, Churchill, Kohl, Mitterrand, Clinton und Merkel. Zuletzt nahm im Mai 2012 Wolfgang Schäuble die Auszeichnung entgegen, die »in Erinnerung an den großen Begründer abendländischer Kultur« für Verdienste um Europa verliehen wird. Zu den Geburtshelfern des Preises zählte einer der umstrittensten Politiker der Adenauer-Ära, Kanzleramtschef Hans Globke, der eine lebhafte Nazi-Vergangenheit hatte. Absolvent des Aachener Kaiser-Karls-Gymnasiums, wurde Globke nach dem Krieg Stadtkämmerer von Aachen. Und als der noch unbekannte Karlspreis durch prominente Preisträger rasch an Bedeutung gewann, halfen dabei Empfehlungen aus Globkes Kanzleramt.
Was hat es nun auf sich mit Karl, dem Europäer? Auch wenn er und seine Zeitgenossen von Europa keine rechte Vorstellung hatten, könnte dann sein geeintes Riesenreich wenigstens als Vorbild für einen zusammenwachsenden Kontinent dienen? Nur wer die Geschichte verklärt, kann darauf heute noch beherzt mit Ja antworten. Karls universales Christentum wurde vielen seiner Untertanen mit brutalem Zwang auferlegt, zum Vorbild taugt das sicher nicht. Und seine großen kulturellen Leistungen blieben das Werk einer kleinen Elite.
Die Karlsbegeisterung der fünfziger und sechziger Jahre, die in der großen Aachener Ausstellung von 1965 kulminierte, ist nur noch historisch zu verstehen: Sie war ein Kind des Kalten Krieges, einer Zeit, in der Europa häufig mit Westeuropa gleichgesetzt wurde, weil im Osten der Feind stand. Genau genommen war das Frankenreich niemals europäisch, es endete an der Elbe und reichte nicht weit nach Norden. Die Gebiete von England, Polen, Griechenland oder Schweden, um nur einige EU -Länder zu nennen, gehörten zu keiner Zeit dazu.
Aber Mythen haben sich noch nie um die Wirklichkeit geschert.
»Könige mussten siegreich sein«
Der Historiker Johannes Fried sieht Karl als überragenden Herrscher, aber nicht als Gründervater Europas.
Das Gespräch führten Dietmar Pieper und Johannes Saltzwedel
SPIEGEL: Herr Professor, nicht viele Herrscher heißen »der Große«, aber bei Karl ist das offenbar selbstverständlich. Weshalb?
FRIED: Es hat sich erst in den zwei Jahrhunderten nach seinem Tod so entwickelt. Anfangs nannte man ihn »Carolus magnus imperator«, den großen Kaiser; irgendwann wurde vielleicht der »imperator« einfach weggelassen. Hinzu kamen politisch parallele Trends in West und Ost.
SPIEGEL: Welche?
FRIED: Als im Westen die Kapetinger den Thron übernahmen, mussten sie sich rechtfertigen; es lebten ja noch Karolinger mit Herrschaftsanspruch. Als Überbrückung wurde Karl zum Vorbild erklärt. Daraus entstand eine Tradition, und später erschien Karl immer mit dem französischen Lilienwappen. Im germanisch geprägten Ostreich drehten die Sachsen, die Karl ja einst brutal geknechtet hatte, sein Bild vom Unterdrücker zum Missionierer und Heilsbringer um, als sie selbst die Kaiser stellten.
JOHANNES FRIED
Der vielfach ausgezeichnete Mediävist lehrt an der Frankfurter Goethe-Universität. Unlängst hat Fried, Jahrgang 1942, im Verlag C. H. Beck eine umfangreiche Biografie über Karl den Großen herausgebracht.
SPIEGEL: Zudem war Karl nach kaum anderthalb Jahrhunderten ein Sagenheld geworden, fast wie ein zweiter König Artus. Aber zieht man all das ab, bleiben Sie dabei, dass er ein Großer war?
FRIED: Grundsätzlich schon – immer vorausgesetzt, dass wir an Karl als Person eigentlich nicht herankommen. Man kann Taten und Wirkungen registrieren. Von heute aus erweist sich die Größe vor
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