Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Lateinische nicht beherrschten, einen Zugang zur Heiligen Schrift bekämen. »Warum sollten die Franken das als Einzige unterlassen und nicht in der fränkischen Sprache zum Lob Gottes singen?«, fragte Otfrid. »Gut«, räumte er ein, »nie wurde so mit ihr gesungen, nie wurde sie mit Regeln bezwungen, aber sie hat doch ihre Richtigkeit in schöner Vollkommenheit.« Die Franken, so argumentiert Otfrid, stünden den »gotes liuti« des biblischen Königs David in nichts nach, auch sie dürften den Herrn in ihrer eigenen Sprache loben, wie die antiken Bibeldichter Iuvencus, Arator und Prudentius es auf Latein getan hatten. So waren es offensichtlich auch politische Ziele, die Otfrid mit seinem Evangelienbuch verfolgte. Es ging ihm darum, seinen König zu stützen: Ludwig, der Enkel des großen Karl, wollte das ostfränkische Teilgebiet, über das er herrschte, zu einem eigenständigen Reich Ostfranken machen. Überhaupt sah sich Ludwig als rechtmäßiger Nachfolger Karls des Großen. Otfrid stellte seinem Evangelienbuch eine Widmung voran und überschrieb sie triumphalisch: »Ewiges Heil werde Ludwig zuteil, dem König des Ostreichs.«
Indem er in »frenkisga zungun« schrieb, wollte der Dichter also ein Volksbewusstsein schaffen und den Ruhm der Ostfranken besingen: »Mit Fleiß und großer Anstrengung bemühten sich viele Völker, das schriftlich festzuhalten, was der Verherrlichung ihres Namens dienen konnte«, schrieb er. »Ebenso setzten sie sich mit rühmenswertem Eifer dafür ein, dass man ihre kühnen Taten in Büchern verkünde. Dadurch vollbrachten sie noch eine weitere Ruhmestat: Sie zeigten ihre Weisheit, zeigten ihren Kunstverstand in der Vollkommenheit ihrer Werke.« Die Volkssprache zur Literatur zu erheben, zur Kunst, darum ging es. Die Aufwertung der Volkssprache sollte den Rang des eigenen Volkes herausstellen. Dazu verwendet Otfrid, worin ihm Dichter bis heute nacheifern: den Endreim (und nicht den Stabreim der nordischen Epik). »Griechen und Römer, hochberühmt / Die machen’s, wie es sich geziemt, / Und haben’s also hergestellt, / Wie es dir immer wohlgefällt« – so lassen sich Otfrids Verse übersetzen, wenn man auch im Neuhochdeutschen den Endreim haben will.
Überliefert sind von Otfrids Evangelienbuch 7104 Langzeilen, es umfasst 140 Kapitel und ist in fünf Bücher eingeteilt. Otfrid hielt sogar fest, wie viel Arbeit ihm das alles machte und worin die Mühe lag. Es fehle der Volkssprache ein System grammatischer und poetischer Regeln; überhaupt sei es schwierig, eine Sprache aufzuzeichnen, die noch so gut wie überhaupt nicht schriftlich festgehalten worden war.
Hat seine Propaganda-Poetik etwas genützt? König Ludwig immerhin gelang es, sein Reich zusammenzuhalten. Er gilt als einer der bedeutendsten Karolinger nach Karl dem Großen; ohne ihn hätte es das spätere Heilige Römische Reich nicht gegeben. In den zeitgenössischen westfränkischen Quellen nannte man Ludwig »rex Germaniae«. Vom 18 . Jahrhundert an machten Historiker aus ihm Ludwig »den Deutschen«. Es sollte nach Otfrids Tod aber noch etwa 200 Jahre dauern, bis die deutschsprachige Dichtung weiter vorankam. Otfrid fand zunächst keine Nachahmer – was seine Leistung als erster namentlich bekannter deutscher Dichter eigentlich nur noch eindrucksvoller macht.
Als Kaiser Karl zur Schule kam
In seiner Anekdotensammlung »Gesta Karoli Magni« beschrieb der Mönch Notker den Herrscher als Volkstribunen – und benutzte ihn für politische Zwecke.
Von Rico Grimm
Der Gottesmann, der den Beinamen »der Stammler« trug, war einer der besten Erzähler seiner Generation. Persönlich hatte Karolinger-König Karl III. diesen Mönch Notker gebeten, ein Buch zu schreiben. Es war Dezember 883 . Der König kam gerade von einer Italienreise zurück, die kompliziert gewesen war: ein neuer Papst, ein abtrünniger Langobarden-Herzog, Hochverrat und Kriegsgefahr.
Im berühmten Alpenkloster St. Gallen machte Karl III. (»der Dicke«) auf dem Rückweg Station. Drei Nächte lang erzählte ihm Notker von seinem Urgroßvater Karl dem Großen, drei Nächte gute Unterhaltung. Daher der Buchauftrag. Der »Stammler« machte sich ans Werk und schrieb die »Gesta Karoli Magni« (»Taten Karls des Großen«). Wenn die Lebensbeschreibung aus der Feder des Karl-Vertrauten Einhard die publizistische Seriosität eines offiziösen Organs ausstrahlt, dann ist dieses Buch die Kolportageversion. Eine farbige Ansammlung von Anekdoten über Karl den
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