Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
antiken Vorgaben. Er opferte die mitunter starre Metrik der Verständlichkeit und Melodik. Auch die einfachen Menschen seiner Zeit sollten die Größe Gottes aus der bildkräftigen Dichtung erahnen können. Diese 40 Sequenzen umfassen das ganze Bibeljahr und gelten als Meilenstein der mittelalterlichen geistlichen Poesie.
Um Karl III. in seinem Sinne zu beeinflussen, war ihm jedes Mittel recht. Wenn seine Quellen – Notker beruft sich auf mündliche Berichte dreier Zeugen – nicht ausreichten, schrieb er die Geschichte in seinem Sinne um. Einen Mainzer Erzbischof zu Zeiten Karls des Großen zum Beispiel beschrieb er als dumm, ungebildet und dekadent. Keine Quelle gibt Anhaltspunkte, dass diese Charakterisierung stimmen könnte. Sie passt aber erstaunlich gut auf einen politischen Gegner von Karl III. , den damaligen Bischof Liutbert. Dieses Muster zieht sich durch das komplette Werk. Normannenproblem, Schutz der katholischen Kirche in Italien: Immer wieder schreibt Notker über Karl den Großen, meint aber dessen Urenkel. Der wortgewaltige Mönch instrumentalisierte den verewigten Frankenherrscher für seine politischen Ziele – und wurde so ein zweites Mal stilbildend. Nicht nur prägte er das Bild eines volkstümlichen Monarchen, er war auch einer der Ersten, die Karl den Großen ohne Rücksicht auf die geschichtliche Wahrheit glorifizierten.
Das Reich zerfiel, seine Nachfahren stritten – der erste mitteleuropäische Kaiser war die perfekte Projektionsfläche für politische Wunschträume und ausufernde Legenden. Über Karl, der jahrzehntelang ein riesiges Reich regiert hatte, kursierten abseits der schriftlichen Chroniken eine Menge Geschichten und Anekdoten. So konnte sich schon früh jeder genau jenes Bild von Karl entwerfen, das er brauchte. Begonnen hat damit Notker, dieser St. Gallener Dichterfürst und Fürstendichter mit politischer Agenda.
Erben der Macht
Hugo Capet begründete als Nachfolger der Karolinger im Westfrankenreich eine nationale Dynastie, die ungeheuren Erfolg haben sollte.
Von Romain Leick
Die Wahl des Anwärters auf den Königsthron schien keineswegs selbstverständlich, und als alternativlos konnte sie schon gar nicht gelten. Dennoch tat der Lobredner, der als Vorsitzender und Fürsprecher das Wort vor der erlauchten Versammlung ergriff, in seiner Ansprache so, als dränge sich die Entscheidung für diesen Kandidaten allen Verständigen und Wohlgesinnten geradezu als das Gebot der Stunde auf.
»Lasset uns vermeiden«, sprach Adalbero, Erzbischof von Reims, einer der höchsten kirchlichen Würdenträger im Land, »dass der Hass die Vernunft erstickt und die Leidenschaft die Wahrheit schwächt … Wählt euch also den Herzog, der sich durch seine Taten, seinen Adel und seine kriegerische Macht empfiehlt; ihr werdet in ihm einen Verteidiger nicht nur für den Staat, sondern überdies für eure privaten Interessen finden. Dank seiner Hingabe werdet ihr in ihm einen Vater haben. Wer hat je nach ihm gerufen, ohne seine Unterstützung zu bekommen? Wer ist der Mann, der, dem Schutz der Seinen entrissen, diesen nicht durch seine Mühe zurückgegeben worden wäre?« So hat der Mönch Richer von Reims das Plädoyer des Erzbischofs aufgezeichnet – sicher nicht wortgetreu, doch zutreffend im Geist der Zeit. Richers »Historiae«, eine Geschichte Westfrankens vom Ende des 9 . bis zum Ende des 10 . Jahrhunderts, sind sogar im Originalmanuskript des Autors erhalten; das Werk wird in der Bibliothek von Bamberg aufbewahrt.
Adalberos Rede hatte durchschlagenden Erfolg. Die kirchlichen und weltlichen Größen waren zusammengekommen, um einen Nachfolger für Ludwig V. zu küren, den kurz zuvor bei einem Jagdunfall verstorbenen König Westfrankens. Nun hoben sie einstimmig Herzog Hugo auf den Thron. Von seinem Vater hatte er schon lange zuvor den Ehrentitel Dux Francorum geerbt. Am 3 . Juli 987 wurde Hugo, der zum Begründer der neuen, überaus erfolgreichen Dynastie der Kapetinger werden sollte, in Noyon gekrönt und geweiht. Er war 46 oder 47 Jahre alt.
Wohl keinem der Teilnehmer war bewusst, dass er dem Beginn einer langen Ära beiwohnte. Das Königsgeschlecht, das mit Hugo endgültig die bis dahin vorherrschenden Karolinger ablöste, sollte ununterbrochen bis zur Französischen Revolution und noch einmal darüber hinaus bis zum Erlöschen der Monarchie in der bürgerlichen Revolution von 184 8 regieren. Eine Spanne, die unter den regierenden Häusern Europas ihresgleichen sucht.
Die Geburt
Weitere Kostenlose Bücher