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Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)

Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)

Titel: Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Fried
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gewöhnt, an Betrug und Lüge.
    Alkuins «
Dialectica
» verlangte nichts Anspruchsvolles, doch Ungewohntes.Leicht faßlich und wiederum in dialogischer Gestalt führte sie die Kategorienlehre des Aristoteles und dessen «
Perihermeneias
» am Karlshof ein, die Lehre also von der Aussage. «Alkuin: Perihermeneias heißt die Schrift gleichsam vom Begreifen. – Karl: Wie vom Begreifen? – A. Jeder Sachverhalt, der einer ist und durch ein Wort dargestellt werden kann, wird entweder durch ein Nomen oder durch ein Verb bezeichnet. – K. Wie geschieht das eine oder das andere? – A. Durch das Nomen wird die Substanz eines jeden Dinges bezeichnet, etwa ‹Mensch›. Durch das Verb werden Handeln oder Leiden aufgewiesen, etwa: ‹der Mensch rennt›, ‹der Mensch wird gequält›. Diese beiden Elemente einer Rede bezeichnen das Ganze, das der Verstand zur Aussage entwirft.» Und so ging es fort, übrigens in mehr oder weniger direkter Anlehnung an des Themistios Darlegung. Solche Redeweise bot alles andere als hohe Philosophie; aber sie war ungewohnt, mußte eigens eingeübt werden und veränderte mit der Zeit Wahrnehmungs- und Aussageweisen.
    31 Beginn der «Dialektik» Alkuins, Cambridge, Corpus Christi College, Parker Library Ms. 206f. 101r
    Der König als Schüler. Nichts propagierte den Erneuerungswillen deutlicher als eine solche bald weitverbreitete Fiktion. Wer immer diese «Dialektik» las, konnte es und sollte es dem König nachtun. Die in gleicher Weise verbreitete «Rhetorik» des Angelsachsen galt keineswegs bloß dem Schmuck und dem Glanz einer blendenden Rede. Sie diente in der Antike den Parteien vor Gericht, schärfte deren argumentative Konfrontation im Prozeß, und verlangte deshalbsystematisches Fragen, Gedächtnisschulung, brauchbare Definitionen und Unterscheidungen, eine logische Argumentationstechnik und verlangte nicht zuletzt nach Überzeugungskunst.
    Diese Disziplin grenzte nahe an die Dialektik, formte etwa die Zirkumstanzenlehre, die Lehre nämlich von dem durch beharrliches Fragen zu erhellenden Sachverhalt und seinen «Umständen», den
circumstantiae
, die katalogartig das «wer» und «was», das «wo» und «wann», das «warum», «womit» und «auf welche Weise» erfragte, die Kategorien nämlich des Aristoteles, mit deren Hilfe der Philosoph meinte, alles aussagen zu können. Kleine Schritte zu einem kontrollierbaren Vernunftgebrauch und zu einem von Vernunft geleiteten Wahrnehmen wurden am Hof und in den Schulen eingeübt; und mit ihnen zog unmerklich ein neuer Denkstil in die fränkische Gesellschaft und unter ihren Eliten ein. Der König aber wollte die Eliten seines Volkes an eine rationale Erfassung ihrer Welt heranführen; sein Vorbild sollte sie dazu drängen.
    Mit einiger Übung gestattete diese Lehre, auch komplexe gesellschaftliche, herrschaftliche, organisatorische Zusammenhänge angemessen, in seinen Teilen und als Ganzes zu erfassen. Ein analytischer Sinn für Satzaussagen wurde geformt; zugleich wurden rational gelenkte Wahrnehmungsweisen und Fragemuster vermittelt und eingeübt, damit gleichfalls das Wahrnehmen selbst geschult und eine Neugier gepflanzt, die – wie sich zeigen sollte – vor nichts mehr halt machen wird. Diese Rhetorik entpuppte sich damit als eine Aufklärungswissenschaft, die unmittelbar der Dialektik in die Hand arbeitete.
    Die wenigen, rudimentären Grundwissenschaften, die bald an allen Schulen eingeübt wurden, eine Handvoll spätantiker Texte, wieder und wieder traktiert, im Westen und Osten des Reiches, unter den Angelsachsen und in Italien, überall, wo die lateinische Sprache regierte, führten mit der Zeit nicht nur zu einer wachsenden Beherrschung der dialektischen Methode, zu einem immer entschlosseneren Vertrauen in das von den Regeln der Vernunft geleitete Denken, sondern mündeten zugleich in eine sich allmählich etablierende einheitliche intellektuelle Prägung des Abendlandes, das sich durchdiese Schulung von Byzanz und der arabischsprachigen Welt zu unterscheiden begann. ‹Nationale› Variationen und ‹internationale› Konkurrenz waren damit nicht ausschlossen. Doch seit Karls Zeit verbreitete sich die aristotelisch geprägte Wissenschaftlichkeit an allen Schulen des Abendlandes in prinzipiell gleicher Weise.
    Das erneuerte Wissen und Können wurde nicht um seiner selbst willen gesucht, die lateinische Sprachkompetenz nicht um der Logik willen erneuert. Beide dienten – wie der Kirchenvater Augustin gelehrt hatte – dem Heil

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