Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)
geschweige denn für eine Disziplin des Quadrivium. Die Schulen füllten ihre Bibliotheken erst allmählich. Wohl aber brachte der Gote Theodulf eine Lektüreliste mit, die in Versen christliche und heidnische Autoren verzeichnete, die er lesen lasse: Gregor denGroßen, Augustinus, Hilarius, Leo den Großen, Hieronymus, Ambrosius, Isidor von Sevilla, Johannes Chrysostomus, Cyprian und andere zahlreiche, doch eben auch einige heidnische «Philosophen», die Grammatiker Pompeius und Donat und den «geschwätzigen» Vergil. Die Nennung des Dichters war eine Spitze gegen Alkuin, der vor diesem Dichter gewarnt hatte. Theodulf aber legitimiert seine Lektüre – oft pflegten die «Philosophen» das Falsche der Dichter zum Wahren zu wenden – mit «mystischer» Deutungsmöglichkeit (
fabulae poetarum a philosophis mystice pertractentur
)[ 120 ].
Nicht immer verstand man, was man las, in angemessener Weise, keineswegs bedeutete jetzt das Gleiche Dasselbe. Die antike Semantik stand stets sozial, religiös und bildungsmäßig in einem fremden Kontext, was die Gelehrten des 8. und 9. Jahrhunderts noch nicht durchschauten. Die erotische «Liebeskunst»,
Ars amatoria
, des Ovid konnte dann – wie das «Hohelied» der Bibel – allegorisch ausgelegt und spiritualisiert werden. Die
res publica
antiker römischer und karolingerzeitlicher Autoren stimmten in keinem Fall überein. Die
utilitas publica
ist kaum das «Gemeinwohl», vielmehr der Nutzen der beteiligten Großen. Petrus erschien als schwertschwingender Recke. Doch Nachahmung und Übung erlaubten erstaunliche Fortschritte.
Das reifste Beispiel solcher Imitationskunst bot Einhards «Karlsleben». Es mußte die untergegangene Literaturgattung weltlicher Biographik erneuern. Der Autor orientierte sich dazu an den Kaiserbiographien Suetons, zumal – aber nicht ausschließlich – an dessen Augustus-Vita. «Hier, Leser, hast du ein Buch, welches das Gedächtnis an einen wahrhaft berühmten und großen Mann festhält. Nichts findest du in ihm, was zu bewundern verlohnt außer seinen Taten – und vielleicht auch, daß ich barbarischer Mensch, der ich in der Sprache Roms nur ein wenig geübt bin, vermeine, angemessen elegant Latein schreiben zu können, und mich zu solcher Anmaßung hinreißen ließ»[ 121 ]. Nicht geringer Stolz ob der vollbrachten Leistung erfüllte den Autor. Dennoch, so bemerkenswert die Karlsvita in vielerlei Hinsicht auch ist, den spezifischen Reiz und die Souveränität Suetons hat sie nicht nachahmen können.Einhard fand auch keinen Nachfolger. Immerhin: Die Barbaren hatten Wissen und Darstellungsweise Roms erneuert. «Die Sprache Roms», die Sprache Ciceros nämlich, wie Einhard betonte und zeitgenössische Leser bemerkten, ebnete Wege zu einer neuen literaten Kultur. So nimmt Einhards «Vita Karoli» bei aller Begrenztheit eine unvergleichbare Sonderstellung ein.
Das Latein streifte im Gebrauch der karlszeitlichen Eliten seine Vulgarisierung ab, erneuerte sich und gestattete wieder erste Annäherungen an die antike Literatur, an Rhetorik, Philosophie und Theologie. Renovation aber bescherte Innovation. Erste eigene Gedanken meldeten sich. Noch waren es zarte Pflänzchen, die im Frankenreich zu sprießen begannen. Sie konnten sich kaum mit den blühenden Kulturen der Byzantiner oder der arabischen Welt messen; aber sie waren originell. Und sie sollten einmal reiche Frucht tragen. Die intellektuellen Eliten des Frankenreiches lernten wieder auf Latein zu denken. Die Trias von Grammatik, Rhetorik und Dialektik, an allen Schulen prinzipiell gleichartig gelehrt und konsequent eingeübt, Generation für Generation, wurde das intellektuelle Rüstzeug für den Wiederaufstieg der lateinischen, der gesamten abendländischen Kultur. Sie hatte freilich immer ausgiebiger die Nachhilfe des schubweise wiederentdeckten Aristoteles genossen.
9
Der weise König Karl
arl, unsere Leuchte, teuerste Liebe des Volkes, du frommer König, du weiser Führer, hervorragend durch Tugend und Waffentaten, würdig alles Würdigen, das der Erdkreis lobt (
placet
)». So feierte Dagulf, der Urheber eines der ersten Bücher, das für den Karolinger geschrieben wurde, des ersten Psalters aus dem Umkreis des Königs (Abb. 28) den Empfänger und wünschte ihm, sich fortan(
demum
) im «davidischen Chor einfinden zu können».
Doctiloquax
, «weisheitskündender König», hieß er den Psalmisten mit feiner Anspielung auf seinen eigenen König, den redekundigen «David» des
Weitere Kostenlose Bücher