Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)
der Seele, dem rechten Glauben, dem rechten Vollzug der heiligen Rituale, dem Verstehen der heiligen Schriften und der von Gott gestifteten Weltordnung und damit einer gottgefälligen Herrschaftswaltung bis hin zur Fürsorge für die Schwachen und Armen; auch sie gebot ja die Religion. Religiöse Motive lenkten tatsächlich Karls Sorge um die Bildung und mit ihr um die erste Stufe der Verwissenschaftlichung der europäischen intellektuellen Kultur. Daß diese Rationalität der Religion einmal gefährlich werden könnte, ahnte damals niemand.
Schon der Pisaner Petrus, einer der ersten Grammatiklehrer, die Karl an seinen Hof gezogen hatte, erinnerte seinen Auftraggeber an das hohe Ziel: Wer seinem Unterricht folgen wolle, höre auf, das kindliche Dunkel seines Geistes zu hegen, wolle mit seinen Worten keinen Streit anzetteln. Friedvoll bewahre er den Sinn des Textes. «Denn der König Christus selbst ist Friedensbringer». Es war der Friede der Seele, den das Wissen beschere, der Friede im Innern des christlichen Reiches, nicht die Kriegslosigkeit nach außen gegen die Feinde, gegen Häretiker oder Heiden. Was für eine Hoffnung!
Die Wissenschaften folgten Gottes Willen; sie spürten ihm nach, dem Er Seine Schöpfung unterworfen hatte. «Philosophen waren nicht die Schöpfer der Wissenschaften, nur ihre Entdecker. Denn der Schöpfer aller Dinge hat die Dinge in ihrer Natur bestimmt, wie Er wollte. Die Weisen der Welt waren die Entdecker dieser Wissenschaften in der Natur der Dinge.» Alkuin schrieb es dem König, als er ihn über den Lauf der Sonne durch den Zodiak belehrte[ 126 ]. Jedwede Wissenschaft suchte die Übereinstimmung mit Gottes Willen. «Was sonst bedenken und bestaunen wir als dieWeisheit des Schöpfers in dem natürlichen Lauf von Sonne, Mond und Sternen?»
Diese Wissenskultur sollte das Leben formen. Sie diente der Gottesverehrung, der Kirche, den Entscheidungen im königlichen Rat. Der Schutz des Glaubens, die Abwehr von Häresie und die Ordnung des Reiches riefen nach ihr: Grammatik gleichsam für das Gebet, Rhetorik für die Herrschaft, Dialektik für den Glauben, alles Wissen für die gottgefällige Ordnung der Welt. Diese Künste boten Theorien für die Wirklichkeit, für Herrschaftspraxis und Herrschaftswissen, für Karls Frankenreich. Der König ließ sie in seinem Reich verbreiten. Sie sollten keineswegs auf seinen Hof beschränkt bleiben. Bildung bedurfte zu allen Zeiten eines breiten Fundaments. Sie verkümmert, wenn das Fundament zu bröckeln beginnt. Karl wußte es aus den zurückliegenden Jahrhunderten seines eigenen Frankenreiches.
Das ganze aristotelische «Organon» freilich – es umfaßte neben der Kategorien- und der Aussagenlehre noch vier weitere Schriften: die Lehre vom logischen Schließen (Syllogistik), die Lehre vom Beweisen, die Topik (eine Argumentationslehre für den Disput) und endlich die Lehre von den Trugschlüssen – dieses «Organon» wurde freilich nur schrittweise rezipiert; es stand mit seinen letzten drei oder vier Schriften erst seit dem 12. Jahrhundert der lateinischen Welt zur Verfügung. Nur teilweise Ersatz bot eine kleine Schrift des Boethius «
De divisione
», die sich mit der logischen Unterscheidung befaßte. Das definierende Merkmal einer «Sache» (
proprium
) galt es von dessen zufälligem Beiwerk (
accidens
) zu unterscheiden. Ein Mensch bleibt ein Mensch, gleichgültig ob er groß oder klein, dick oder dünn ist, ob vielwissend oder arm im Geiste. Die Differenz zwischen verschiedenen Gegenständen, das sie unterscheidende Merkmal (wie etwa den Leibesumfang), galt es zu bestimmen. Zu differenzieren aber erleichterte das Ordnen, die Einteilung nämlich nach «
Genus
» und «
Species
» und weiter nach Unterarten: «Das Ganze wird in Teile geteilt, bis wir jedes Moment freigestellt haben, aus denen es zusammengesetzt ist» wie Haus in Dach, Wände, Fundament[ 127 ].
Die Zeit vor dem 12. Jahrhundert nutzte man zur Einübung inkategoriales Denken, plagte sich also mit Proprium, Akzidens, Differenz und Division, verknüpfte diese Größen mit den Zirkumstanzen, die ihrerseits nach kategorialen Bestimmungen riefen. So formte sich durch drei Jahrhunderte eine rationale Denktechnik nach festen Regeln und in kontrollierbaren Schritten, die sich über alle Schulen des Abendlandes verbreitete. Von Schottland bis Süditalien und Sizilien, von Polen bis Portugal wurden prinzipiell in gleicher Weise Begriffe, Kategorien, Aussageweisen, Regeln,
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