Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)
karolingischen Königen, zaghaft unter Pippin, mit Macht dann unter seinem großen Sohn Karl, setzte die Gegenbewegung ein.
Das Artesstudium sollte wieder erstehen. Die Siebenzahl des Kanons verfestigte sich neuerlich und nicht zuletzt durch Alkuins kleine Einführung zu einer unvollendeten enzyklopädisch angelegten Schrift über eben diese sieben «freien Künste» – er hieß sie: «
Disputatio de vera philosophia
». Der Angelsachse setzte sie seiner vor allem auf den Grammatiker Donat, aber etwa auch auf «
De interpretatione
» des Boethius gestützten «Grammatik» voran. Seine «Rhetorik» und «Dialektik» folgten ihr. Diese «Disputation» gedieh – wiederum in der schlichten sprachlichen Form eines Dialogs zwischen «Magister» und zwei «Schülern» (fragend der eine, ein Franke, klug der andere, ein Sachse) – zu einer knappen neuplatonisch geformten Anleitung zum Studium. Auch Karl wird seine Freude an ihr gehabt haben[ 129 ]. «Eure Neugier kennt kein Maß. Ihr wollt das Maß eines Handbüchleins übertreffen», lobt der Magister[ 130 ].
Philosophie, die Liebe zur Weisheit, sei aller Tugenden Meisterin, ein unverlierbarer Besitz, so führte der gelehrte Mann aus. Dem menschlichen Geist stehe das Licht des Wissens von Natur aus zur Verfügung, aber ohne Schulung bleibe es ein eingesperrtes Fünkchen. Leicht sei es, den Weg der Weisheit zu weisen, wenn sie um Gottes willen, um der Reinheit der Seele willen, um der Wahrheit willen, ja, um ihrer selbst willen gesucht werde und nicht, um menschliches Lob, weltliche Ehren und Reichtum. Dem menschlichen Geist sei das Streben nach dem Wahren und Guten von Natur aus eingegeben. Doch Maßhalten sei nötig, mahnte der Meister; es gelte das Wort «Nichts im Übermaß». Weisheit sei ein ewiger Schatz der Seele. Der Weg zu ihr führe über die sieben Säulen oder Trittstufen der Artes, der Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik,Geometrie, Musik und Astrologie (d.h. Astronomie), über die Säulen der sieben Gaben des Heiligen Geistes, und über sie zur reinen Gottesschau[ 131 ]. Grammatik als erste Stufe zur Gottesschau – eben so wünschte es Karl. Wissenschaft verlangte nach Menschenbildung, nach dem Maß der eigenen Seele. Alkuin freilich war es nicht vergönnt, die Disziplinen des Quadriviums zu behandeln.
Der Erfolg eilte nicht in Riesenschritten herbei, aber er ließ auch nicht auf sich warten. Der «Aufstieg zur Weisheit» war für eine ganze Gesellschaft keine Angelegenheit weniger Jahrzehnte. Er bedurfte vieler menschlicher Generationen, sorgte mit der Zeit aber für eine recht einheitliche abendländische geistige Kultur. Nicht der rasche Fortschritt entschied, sondern die Dauerhaftigkeit der Intention und die Kontinuität der Übung; sie bewirkten jene Nachhaltigkeit, die sich der gesamten Kultur mitteilte und einen gemeinsamen Denkstil hervorbrachte.
Die aristotelische Propädeutik führte zu einem Aufbruch in die künftige Blütezeit der Scholastik, einem Aufbruch, der nie endete, der weiter und weiter drängte. Auf dieser Grundlage konnten sich die Anfänge abendländischer Theologie entfalten, der geistigen Durchdringung der Geheimnisse des Glaubens; ihr folgten die rationale, zunehmend von Glaubenszweifeln bedrängte Philosophie und die säkularen Wissenschaften. Beide wurden nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit tatsächlichen und vermeintlichen Häresien unverzichtbar und nahmen schon unter Karl – soweit es das Abendland betraf – einen Aufschwung wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Gelehrsamkeit und Wissenschaft schickten nunmehr die frühmittelalterliche, überwiegend der Mündlichkeit verhafteten Gesellschaft auf den langen Marsch zu einer Vernunftkultur, die mit den Prinzipien methodisch kontrollierten Denkens einsetzte, über die Techniken rationaler Argumentation zur Kosmologie und zu exakten Wissenschaften fortschreiten sollte.
Ein lockeres Gespräch im Bad oder in der Königshalle genügte nicht. Geduldige Übung war verlangt. Es galt, in vielfältiger Weise zu handeln. Nicht der Krieg, die Ordnung von Kirche und Herrschaft erforderte Karls größte Aufmerksamkeit; sie war ohne Wissenschaft nicht zu realisieren. Reich und Kirche bedurften nach außendes Heeres, im Innern der Ordnung, des Gehorsams gegen die Gebote Gottes und der Kirchenväter, bedurften des rechten Wissens für Klerus und Laien, erneuerter lateinischer Sprachkompetenz, der Rhetorik und Dialektik, der Schulen und Bücher und der Gerechtigkeit. Der
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