Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)
Berichte der Königsboten aus allen Amtsbezirken klangen erschreckend; auch der Schutz der Schwachen ließ zu wünschen übrig. Nicht zuletzt gemahnten die zwar glücklich niedergeschlagenen, aber unvergessenen Aufstände früherer Jahre an latente Bedrohungen von Herrschaft und Ordnung. Dieser oder jenerGroße, vielleicht auch der eine oder andere der eigenen Söhne mochte sich machtgierigen Träumen hingeben, denen es rechtzeitig Einhalt zu gebieten galt. Alles verlangte höchste Aufmerksamkeit und die Anspannung aller Kräfte. Die Mittel freilich, über die der Herrscher verfügte, entsprachen dem traditionellen Wissen; sie zumal bedurften der Erneuerung, der Ausweitung und Effizienzsteigerung. Wie aber Erfahrung und Wissen mehren? Wie das Können steigern?
Erste Antworten kehrten zum Gewohnten zurück. Eine Reihe von Kapitularien schärfte es ein. Ausbreitung und Kräftigung des Glaubens, Verbesserung des Gottesdienstes, des
Cultus divinus
, galten für unabdingbar. Um sie hatte sich der Kaiser zuerst zu kümmern. Wieder und wieder, mit beharrlicher Geduld und ermüdender Gleichförmigkeit, wurden religiöse Verhaltensnormen und Gebote eingeschärft, die Kirche und Volk des Heiles wegen zu beachten hätten. Prälaten sollten ihre Macht nicht mißbrauchen, sollten vorbildlich leben und handeln; wer sich seiner Dienstaufgaben unwürdig erwies, sollte abgesetzt werden. Mönche sollten in der Klausur, Nonnen gut abgeschirmt leben. Dann sollten Recht und Gerechtigkeit walten. Die Königsboten wurden Jahr für Jahr zu entsprechenden Kontrollen angehalten. Witwen und Waisen galt es zu schützen. Arme sollten nicht bedrückt, Vasallendienste nicht vernachlässigt werden. Den ärmeren Freien und wenig besitzenden Vasallen wurde Entlastung vom Militärdienst in Aussicht gestellt[ 99 ]. Immer aufs neue wurden gleichartige Gebote in Erinnerung gerufen; immer aufs neue meldeten die Missi die Fortdauer der Mißstände.
Inzest und sexuelle Verfehlungen waren zu ahnden, Mörder und zumal Verwandtenmörder hatten die gebührende Strafe zu erleiden. Bei Hungersnot sollten Gebete Gottes Barmherzigkeit erflehen, sollte aber auch den Bedürftigen Getreide zu moderaten Preisen feilgeboten werden. Und so ging es fort. Den Frieden mit Gott, den Frieden unter den Großen, den Frieden im Volk galt es zu verwirklichen, aber auch den Schutz des Königsgutes. Ausdrücklich sollten die «Missi» untersuchen, ob und wo das Königsgut ordnungsgemäß verwaltet würde oder heruntergekommen sei und reorganisiert werden müßte[ 100 ].
In allem und immer aufs neue verlangte den Kaiser, den Willen Gottes zu erkunden und zu erfüllen. Eintracht, Freundschaft, Frieden und Liebe hießen Weg und Ziel; sie sollten die Königsherrschaft festigen und zum Heil führen. Institutionelle Reorganisationen, reformierende Strukturmaßnahmen, eine neue Raumordnung sucht man bei aller Kontrolle vergebens. Allein die 21 Kirchenprovinzen, die Karl hatte einrichten lassen, gestatteten eine gewisse geographische Übersicht, dazu die jeweiligen Missatbezirke.
Er selbst, Karl, hatte persönliche Konsequenzen gezogen: Des Friedens und der Zahl legitimer Erben wegen hatte er sich – so wird man vermuten dürfen – nach dem Tod seiner vierten oder fünften Gemahlin Liutgard und seit seiner Kaiserkrönung mit Konkubinen begnügt, vier an der Zahl: Madalgard, die Sächsin Gerswind, Regina und Adallind, und keine Kaiserin mehr zu sich genommen, wenn auch weitere, nun aber wegen Illegitimität vom Erbe und damit von den zu erwartenden Verteilungskämpfen ausgeschlossene Söhne gezeugt: Drogo, Hugo und Theoderich neben zwei Töchtern Ruothild und Adaltrud. Einhard (c. 18) überlieferte diese Frauen- und Kindervielfalt.
Das Weihnachtsfest des Jahres 805, das Karl in Diedenhofen (Thionville) feierte, brachte einen neuerlichen Höhepunkt der Friedenssorge. Der Kaiser rief die drei erwachsenen, für erbberechtigt erklärten Söhne – Karl, Pippin und Ludwig – zu sich. Wieder faßten Kapitularien zusammen, was beschlossen worden war, was dem Gottesdienst und dem Frieden dienen sollte. Wiederum sollten Königsboten die Beschlüsse umgehend im gesamten Reich bekannt machen; der Hinweis auf einen entsprechenden Befehl an den Bischof Jesse von Amiens hat sich erhalten.
Keine breiten kirchlichen und weltlichen abstrakten Handlungsfelder wurden dazu abgesteckt; die Gefahrenquellen konnten nur konkret, einzeln und additiv umrissen und mußten – nicht anders als die
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