Karlas Umweg: Roman (German Edition)
singt heute Abend nicht mehr?«, stellte ich folgerichtig fest.
»Das heißt, sie singt überhaupt nicht mehr, jedenfalls nicht bei mir!«, sagte Paterne, indem er mich wieder zu Boden zog.
Als der Vorhang sich erneut senkte und hob, strömten die anderen Solisten des Abends herbei, fassten uns an den Händen und beteiligten sich am kollektiven Verbeugen, dass es eine Freude war. Willem stand einfach neben mir, hielt meine Hand und ließ sie nicht mehr los und verbeugte sich auch. Ich habe ihn noch nie so glücklich gesehen.
»Heißt das etwa, dass Sieglinde die Carmen in Paris singt?«, fragte ich Paterne, als wir gerade wieder den staubigen Bühnenboden aus nächster Nähe betrachteten.
»Mitnichten«, sagte Paterne, indem er, sich und mich aufrichtend, ins Publikum grinste, als gelte es, Zahnpastawerbung zu machen. »Sie werden in Paris meine Carmen sein!«
»Und in Berlin meine Karla«, sagte Willem, der einfach nicht mehr von meiner Seite wich.
Irgendwann hörte der Beifall dann auf.
Zwanzig Jahre später. Reginas Kladde ist fast voll, aber es reicht noch für einen Epilog. Wo fange ich an?
Paterne hat mir eine fundierte Gesangsausbildung am Conservatoire de Paris ermöglicht; ich war an die tausend Mal auf allen Bühnen der Welt seine Carmen. Sogar in Tokio, Peking und Bad Orks. Ich habe in Covent Garden, der Mailänder Scala, der Met in New York, sogar in Australien und Kanada die Carmen gesungen. Selbst in Fulda und Jena haben wir gastiert. Am schönsten war es aber immer in Frankreich, wo Paterne zu Hause ist. Gerade haben wir erst wieder das Wochenende bei ihm verbracht, in seiner Villa in Cagnes sur Mer, oberhalb von Monte Carlo, wo ich aus steuerlichen Gründen eine Wohnung habe.
Ach so, ich sollte nicht vergessen zu erwähnen, dass Paterne gar nicht Maries Vater ist. Er hat Beweise dafür, dass er zur besagten Zeit vor nunmehr 54 Jahren beruflich in Südafrika war und nicht in Ostberlin an der Komischen Oper.
Matthäus lebt mit Frau und Kind in Hamburg. Er ist Bewährungshelfer und führt Beratungen für illegale Einwanderer durch. Was keiner weiß: in seiner Freizeit komponiert er Musicals, sein jüngstes Werk ist gerade mit Riesen-Erfolg auf der Reeperbahn uraufgeführt worden. Na gut, es ist nicht jedermanns Geschmack, weil hauptsächlich Prostituierte und Luder darin vorkommen, aber es spiegelt das wahre Leben. Ich war schon dreimal drin und habe sehr gelacht.
Ludger Thiesbrummel ist immer noch Volksschullehrer in der Nähe von Heidelberg. Seine Tante Hella lebt im Heim, er selber kümmert sich rührend um sie. Er singt immer noch mit seinen Schülern »Der Kuckuck und der Esel«, und ich glaube, wenn mal wieder eine weinende Pianistin auf den Kirchenstufen sitzt, wird er sie sofort in sein Klassenzimmer einladen, der Esel.
Prof. Heyko Zurlinde ist inzwischen pensioniert. Er ist aber nach wie vor Vorsitzender in verschiedenen Kulturausschüssen und Gremien, zwischen Wuppertal und Korea. Manchmal begegnen wir uns am anderen Ende der Welt, letztens erst in Winsen an der Luhe, wo wir beide in der Jury eines Gesangswettbewerbes saßen, und dann müssen wir lachen: was haben wir nicht schon alles erlebt! Besonders die Sache mit der grünen Handtasche werfen wir uns immer wieder gern im Spaß an den Kopf.
Edwin Echtwein lebt still und zurückgezogen in der Lüneburger Heide, tief im Moor. Er spielt noch dann und wann Cembalokonzerte oder transportiert auch mal für einen Freund eine Gambe in seinem Kastenwagen, aber man hört nicht mehr wirklich viel von ihm. Seine Frau, die graue Vorzimmermaus, trägt keine Dauerwellen mehr. Sie betreut jetzt in Berlin die Anonymen Alkoholiker und ist sehr glücklich mit einem von ihnen verheiratet.
Robert, der Entenhalter, ist nach wie vor Generalmusikdirektor in Fulda. Er trägt immer noch den gleichen Federhut, wenn er zur Chorprobe geht, hat aber nie wieder sein Herz an eine Solistin verloren. Mit den Chordamen allerdings pflegt er regen Umgang: da weiß er, was er hat.
Clemens Matulka singt seit fast vierzig Jahren im Saarbrücker Opernchor im Tenor. Mit seiner wasserstoffblonden Statistin hat er inzwischen sechs Kinder, die alle an der Oper Statisterie machen, um für die Familie ein Zubrot zu verdienen. Manchmal jobbt er als Attrappe in einer Fernsehshow; zuletzt war er der Barkeeper bei »Was uns bewegt« im Dritten. Sein weltweit größter Erfolg war ein Werbespot, in dem er für Ikea einen Weihnachtsbaum aus dem Fenster warf.
Siegmund und
Weitere Kostenlose Bücher