Karlas Umweg: Roman (German Edition)
verstand nicht.
»Marie aus der Patsche helfen!«
Aha. Ich sollte also schon wieder Maries Paradiesvogelscheiße wegmachen. »Aber wie …?«
»Toi toi toi!«, sagte er, und ich schaute mich um, wo denn Marie nun sei, drückte auch die Daumen, wie ich das immer getan hatte, und sagte »toi toi toi«, weil ich dachte, Marie käme jeden Moment aus der Dunkelheit.
»Du kannst das!«, wisperte Willem, und dann sah ich Paterne da unten im Orchestergraben um sein Leben rudern.
»Ich kann WAS?«
»Paterne hat dich gehört, neulich im Probenraum! Und jetzt lauf schon!«
Willem drückte mir einen Kuss auf die Lippen, und die Kameras waren auf mich gerichtet, mit ihren roten Lampen, die »Aufnahme!«, blinkten, und Willem gab mir einen kleinen Schubs, und dann drückte er mich mit beiden Händen an den Schultern, und die Gesichter der Leute da unten im Saal waren nur schemenhaft zu erkennen.
»Ja, wie jetzt«, sagte ich, mich unsicher drehend, aber mehr Zeit zum Denken blieb mir nicht, denn das Publikum klatschte, als hätte es die Mondlandung live gesehen, und Paterne gab mir ganz offensichtlich den Einsatz.
Na gut, schoss es mir durch den Kopf, während ich bereits anfing zu singen, wenn sich dadurch die allgemeine Aufregung legt, warum nicht, die Leute haben bezahlt, und im Programm steht, dass die Carmen-Arien jetzt noch mal kommen, interpretiert von einer gewissen Marie von Otten, und ich bin schon so oft für Marie in die Bresche gesprungen, dass ich das jetzt auch mal eben tun kann, die Arme ist wahrscheinlich nicht gut drauf heute Abend, und ich kenn sowieso jeden Ton und jedes Wort, und solange mich hier niemand hindert, kann ich die kleine Gefälligkeit für Marie ja auch noch übernehmen, auf eine mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an.
Und so sang ich alle Carmen-Arien, sogar die Szene mit der Triangel und den Kastagnetten auf dem Tisch, ohne mir groß Gedanken darum zu machen. Nein, ehrlich gesagt, stand ich ganz unter dem unbeschreiblichen Glücksgefühl, dass Willem mich gerade auf den Mund geküsst hatte, und das gleich zweimal hintereinander. »Ja die Liebe hat bunte Flügel, sie fragt nicht nach Gesetz und Macht …« Ich sang die Arie aus vollem, verliebten, glücklichen Herzen, und auf dem hohen Fis am Schluss hätte man Geranien pflanzen können.
Dann brach der Beifall los, und ich dachte mir immer noch nichts dabei, als Paterne auf die Bühne kam, den Arm um mich legte und dann meinen Arm hoch riss, als hätte ich einen Boxkampf gewonnen.
Die Leute jubelten.
Ja, Herrschaftszeiten, dachte ich, wollen wir jetzt nicht endlich mal Marie auf die Bühne rufen, das wird ja hier nichts, wenn die Leute jetzt schon klatschen, womöglich rechnen sie dann gar nicht mehr mit ihr?
Aber Marie war nirgends zu sehen.
Paterne war schweißgebadet und riss immer wieder meinen Arm hoch und mit der anderen Hand forderte er das Orchester auf, sich von seinen Plätzen zu erheben, und die Jungs im Orchestergraben standen auf und klopften mit ihren Bögen und ihren Zargen und was sonst noch so alles im Orchestergraben so greifbar ist, auf ihre Notenpulte.
Die Leute wollten sich gar nicht mehr beruhigen vor Freude.
Ich fragte mich die ganze Zeit, was denn vorgefallen war, dass sie sich so begeistern konnten, und drehte mich immer wieder nach Marie um. Aber da hinten in der Gasse stand niemand als Willem. Und der machte mir unverhohlen Zeichen der Begeisterung: hoch gehobene Daumen in Verbindung mit stolzem Nicken und Augen zusammenkneifen, als hätte ich gerade den Satz des Pythagoras erfunden.
Mir selbst wurde schlecht vor Spannung. Wann trat sie endlich auf? Ich war doch der Pausenfüller gewesen, wie gehabt! Oder nicht?
Aber dann ging der Vorhang runter, und Paterne und ich mussten einen Schritt zurück treten, um nicht von dem schweren, staubigen Ungetüm begraben zu werden.
»Wo ist Marie?«, waren meine ersten Worte an den großen Meister. Normalerweise hatten das immer die Anderen mich gefragt, und das war mir am Ende schon ganz schön auf die Nerven gegangen.
»Sie schläft«, sagte Paterne freundlich.
»Sie schläft?? Jetzt?«
»Alle ihre Liebhaber waren hinter der Bühne, und jeder hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben«, erklärte Willem. »Und jetzt wacht sie womöglich gar nicht mehr auf.«
»Der Krankenwagen hat sie schon abgeholt«, sagte Paterne, und dann ging der Vorhang wieder hoch und wir verbeugten uns, als hätten wir etwas auf dem Bühnenboden verloren.
»Das heißt, sie
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