Karlas Umweg: Roman (German Edition)
er jemandem winkte. Aber wem?
Die Leute schauten sich um. Ich schaute mich auch um, aber da war nur noch Frau Pfefferkorn. Die Leute starrten hinauf in unsere Loge.
Frau Pfefferkorn verlor jede Gelassenheit. »Ich soll hinter die Bühne kommen! Ich muss einspringen!«
»Sind Sie sicher?«
Frau Pfefferkorn zeigte fragend auf sich, wie jemand, der zum Tanzen aufgefordert wird und das aber gar nicht begreifen kann. Paterne schüttelte den Kopf.
»Carmen!«, rief er nun mit verhaltener Stimme.
Ja, ja, dachte ich. Das fällt ihm aber schnell ein.
»Er meint SIE!«, zischte Frau Pfefferkorn. »Nun gehen Sie schon! Kümmern Sie sich um Marie! Jetzt löffeln Sie mal aus, was Sie meiner Tochter eingebrockt haben!«
Wie in Trance verließ ich die Loge und rannte die Stufen hinunter zu der erwähnten Tür, auf der »Bühneneingang – Durchgang strengstens verboten!«, stand. Ausgerechnet jetzt, als ich Marie zu Hilfe eilen wollte, tat sich jedoch für mich ein völlig unvermutetes Hindernis auf. Der grün gewandete Türsteher im Försterdress wollte mich nicht durchlassen.
»Die Koatn, bittschön«, sagte er fordernd und hielt mich an Maries Abendkleid fest.
Ich schluckte und sagte: »Hein?« Das ist französisch. Er sollte glauben, ich sei Ausländerin von feinster Abstammung und einer Unterhaltung mit einem Pförtnerknecht nicht im Mindesten gewachsen. »Le Billjett, wenn’s recht iss, silwuplää!«, schnarrte der Künstlerportalförster.
Mir war wirklich nicht danach, mich mit diesem wichtigen Typen in unnötige Diskussionen zu verwickeln. Schließlich saßen jetzt 2000 Menschen und 12 Fernsehkameras untätig herum und knibbelten an ihren Fingernägeln. Ich musste zu Marie, und zwar sofort.
»Ich will nur hier rein!«, japste ich unfein.
»Na bittschön, wenn’s a Berechtigungs-Zetterl hom, könnens sofoat eini!«, sagte der konzessionierte Durchlasser.
»Ich habe aber keines!«, schnauzte ich.
»Dann können’s auch net aussa!«
»Aber ich muss da rein!« Wütend schmiss ich mich gegen den unnötig sich wichtig machenden Idioten, der einem schon gründlich den Abend verderben konnte.
»Dös ist nicht gestattet!«, sagte der Türsteher. »Hier hinein gelangen nur Künstler.«
»Ja, aber ich werde soeben zu einer Künstlerin gerufen, der es nicht gut geht!«
»Aaah, sagen’s des doch gleich, Sie sind Theaterarzt!«
Egal, was der Freund der Ordnung und Sicherheit mir da vorschlug: ich war damit einverstanden. Er aber nicht. Leider. »Ja, dann zeigen’s mir doch mal Ihre Tasche!«
Ich schaute ihn an wie jemand, der im Supermarkt geklaut hat. »Die ist hinter der Bühne.«
»Und woher soll ich glauben, dass Sie a Ärztin san?«
»Sie haben es doch selber gerade behauptet!«
»Aber Sie können es nicht beweisen!«
»Nein, aber Sie auch nicht das Gegenteil!«
Inzwischen spielte das Orchester unter der Leitung von Paterne bereits das mir sehr wohl bekannte Vorspiel zur mir sehr wohl bekannten Carmen-Arie. »Ja, die Liebe hat bunte Flügel …«
»Lassen Sie mich durch, Sie Wortklauber!«
»Zeigen’s mir Ihre ärztliche Zulassung, Sie Hochstaplerin!«
»Sie spielen schon das Vorspiel, Sie Ignorant! Hören Sie das nicht?«
»Freilich hör ich das! Das höre ich hier seit vierzig Jahren jede Saison!«
»Ruhe! Hören Sie doch mal!«
Wir lauschten beide. Das Vorspiel zog sich endlos hin. Was der Pförtner nicht wissen konnte: es zog sich aus Not endlos hin. In den Noten steht nämlich nach zwei Takten Vorspiel der Einsatz der Sängerin. Aber Marie setzte nicht ein. Weil sie wahrscheinlich schluchzend an irgendjemandes Brust lag. Wenn sie nicht schon tot war. Oder alle Liebhaber sich gegenseitig niedergemetzelt hatten. Wie in »Carmen«, dachte ich, nur in echt!
Ich nahm Anlauf und rammte dem trotzigen Türsteher meine Ellbogen in den Bauch. Daraufhin sank er nieder wie jemand, der mit allem gerechnet hat, nur nicht damit, von einer jungen Frau im Abendkleid in den Bauch gerammt zu werden.
Ich öffnete die Tür, die praktischerweise nach vorn aufging, stieg über den Pförtner und trippelte auf Maries hohen Schuhen durch die endlos anmutenden Gänge. Zum Glück war überall das Schild »Bühne« zu sehen. So gelangte ich auf relativ unkomplizierte Weise dorthin.
Aber statt Marie fand ich dort einen überraschend gefassten Willem. Er packte mich bei den Schultern und sah mir tief in die Augen.
»Nur noch ein letztes Mal!«, flüsterte er mir zu. »Bitte. Tu es für mich.«
»Was …?« Ich
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