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Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Titel: Karlas Umweg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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nur mit seinen übergroßen Füßen in der Gegend rum rennen. Der Männerchor, der sich schüchtern im Hintergrund herum drückte, gab nun seinen Senf dazu, und wiederholte im Prinzip, was Sieglinde schon gebrüllt hatte, die etwa sechzig bis achtzig Mann kamen sowieso nicht gegen Sieglinde an. Sie schrie: »Die Liebe folgt nur ihrem Trieb … und lieb ich dich, sei auf der Hut!« Das waren die Kerle aus dem Männerchor. Sie zogen die Köpfe ein und schämten sich ihrer lächerlich schwächelnden Stimmbänder. Clemens Matulka war auch dabei. Keiner von ihnen sah aus, als hätte er Lust, sich von Sieglinde platt walzen zu lassen. Als sie schließlich das hohe Fis in das ausverkaufte Gestühl des Festspielhauses schleuderte, waren auch die letzten Toupets von den Köpfen der Leute geflogen. Es war umwerfend laut. Ich hätte gern an einem Lautstärkeregler herumgedreht, aber es gab keine andere Möglichkeit, als sich die Ohren zuzuhalten. Doch das tut man nicht in einem Festspielhaus. Endlich war sie fertig. Das hohe H am Schluss wollte überhaupt nicht aufhören zu hallen. Operngläser zerschellten, Kronleuchter wackelten, und die Damen fächelten sich Luft zu. Das Publikum erwachte langsam wie aus einer Ohnmacht und begann vorsichtig zu klatschen. Es war mehr so ein zurückhaltendes Gurren: Dickedikuh, Blut ist im Schuh! Die rechte Carmen ist noch daheim! Im Programmheft stand ja schließlich, dass gleich zwei Interpretinnen hintereinander die Carmen singen würden. Und das Publikum solle entscheiden.
    »BUUUH!«, brüllte ich und stieß einen schrillen Pfiff aus. Entrüstet sah die Pampelmuse zu uns herauf. Sie verbeugte sich zum Trotz so tief, dass sie nach vorne zu fallen drohte. Aber ich schrie: »Schlecht, BUUUH! Geh nach Hause, du fette Schnecke!« Einige Leute lachten. Angestachelt durch meinen heldenhaften Protest, fingen auch andere an zu lästern: »Die lasse ich in meinem Kuhstall singen, dann geben die Kühe fette Milch!«
    Sieglinde schien solcherlei Hohn gewöhnt zu sein. Sie verbeugte sich so oft und so tief, dass man sich wunderte, dass sie immer wieder in die Senkrechte kam. Am Schluss hatte sie sicher sechs Pfund abgenommen. Dann watschelte sie beleidigt von der Bühne. Ich sann mit Grauen darüber nach, was sich wohl zurzeit hinter derselben abspielte. Ein Blick nach rechts und links ließ mich erschauern: Außer Frau Pfefferkorn und mir war niemand in der Loge!
    Nach Sieglindes Auftritt folgte ihr Gatte. Er wirkte wie auf Stelzen, als er auf die Bühne stakste und sein mächtiges Gebrüll anstimmte. Für die Bauern im Saal war das bestimmt ein vertrautes Geräusch: viele von ihnen schießen in ihrer Freizeit Hirsche. Diesmal war das Publikum nicht ganz so verschüchtert. Siegmund Sterz konnte auch nicht so schrill und hoch singen wie seine Gemahlin. Die tiefere Frequenz war für das menschliche Ohr wesentlich erträglicher. Als er geendet hatte, prasselte ganz frenetischer Beifall zu ihm empor. Auch er verbeugte sich so oft, dass man davon ausgehen musste, der Abend könne noch dauern.
    Dann war die Bühne leer. Die Leute im Orchester fingen an, ihre Instrumente zu stimmen. Ganz eindeutig wartete man auf Marie. Rosenmondt fiedelte zur Unterhaltung seiner Kollegen etwas auf dem Cello herum, es hörte sich an wie »Hurra, er war der Husar«, die einprägsame Melodie, die wir alle bei Tim Wolke gesungen – beziehungsweise eben nicht gesungen hatten. Dann quäkte die Oboe jämmerlich, ein paar Geigen jubilierten noch wie einsame Amseln auf abendlichen Frühlingsdächern – und dann war es still.
    Ganz still.
    Im Publikum wurde man unruhig. Die Leute starrten durch ihre Operngläser – was sich als sinnlos erwies, da sie außer den herum tanzenden Staubflocken auf der Bühne nichts Detailliertes erkennen konnten. Andere raschelten irritiert mit ihren Programmheften. Die Kameras suchten verzweifelt nach lohnenden Bildern – auf der Bühne suchten sie jedoch vergebens. Also schwenkten sie planlos im Publikum herum.
    Schließlich erschien der Kopf von Paterne unten aus dem Orchestergraben. Die Leute klatschten. Paterne sagte jedoch nichts, was zur Klärung dieser unerwarteten Pause hätte beitragen können, sondern ruderte nur winkend mit den Armen.
    Zuerst dachte ich, er wolle einen Kanon mit dem Publikum einstudieren. Dann stellte ich in seiner Gestik eine gewisse Panik fest, etwa wie bei einem Angler, der von der Last eines gefangenen Fisches unter Wasser gezogen wird. Schließlich begriff ich, dass

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