Karlas Umweg: Roman (German Edition)
klingelte. Der Nachtportier in Gestalt eines pechschwarzen Afrikaners kam herbeigeschlurft, um mich hereinzulassen. Man sah in der Dunkelheit des Treppenhauses nur das Weiße in seinen Augen, und auch ein paar weiße Zähne, als er den Mund öffnete, um mir Guten Abend zu sagen. Vielleicht machte ich einen überraschten oder gar verängstigten Eindruck, kann sein, dass ich sogar im ersten Affekt nach Ludgers Hand griff. Ludger jedenfalls kam unschlüssig mit in die Hotelhalle.
»Der hier auch schlaffen?«, fragte der Schwarze unlustig. Ich sah Ludger fragend an. Schlaffen oder nicht schlaffen? Das ist hier die Frage.
»Ich weiß nicht«, sagte er. Tante Hella hätte ihn geschubst und gesagt, der Junge schläft hier. Aber Tante Hella war nicht dabei. Der Grünkohl in meinem Magen war immer noch nicht ganz verdaut. Ich wollte in Ruhe und Abgeschiedenheit endlich das tun, wozu ich den ganzen Tag noch nicht gekommen war. Zum Glück erwies Ludger sich als entscheidungsfreudig und entschloss sich nach einigem Zaudern zur Heimreise. Ich atmete hörbar auf und der Schwarzafrikaner verkroch sich wieder in seine Portiersloge. Ludger reichte mir die kalte schlaffe Hand zum Abschied.
»Sieht man sich wieder?«, fragte er und sein Kehlkopf zuckte zusammen über so viel Kühnheit der eigenen Sprechmuskeln.
»Klar«, sagte ich jovial und strich ihm ein bisschen über die bartlose Wange. »Ich melde mich!« Dann schob ich ihn zur Tür hinaus und rannte in meine Dachkammer. Hier lag mein geliebtes Flanellnachthemd, dort die Ohropax-Kügelchen. Wie ich sie doch liebte, und den Verdauungsriegel aus der Notapotheke in meiner Nachttischschublade dazu! Endlich allein!
Ich glaube, ich bin ein ausgesprochen beziehungsunfähiges altjüngferliches Wesen.
Wir sind wieder in Bad Orks, weil das eine kulturell so wichtige und unumgängliche Zwischenstation einer jeden Konzerttournee ist. Ich wohne bei Papa und Mama, das findet Marie okay. Als Mama mir mit ihrem Gemüseeintopf kam, überkam mich eine nie gekannte Abwehr gegen dieses labbrige Zeug. Ich glaube, das ist die unterbewusste emotionale Ablehnung einer bürgerlichen Tochter gegen die Alleinherrschaft ihrer Eltern. Jedenfalls konnte ich das Zeug nicht essen und mochte auch Papa nicht länger beim Hervorwürgen der Kompottkerne zusehen. Auch die Art, wie er die gefaltete Stoffserviette über den Mund zieht, konnte ich nicht ertragen und bat um ein Glas Wasser.
»Kind, was bist du abgemagert«, sagte Mama ungehalten. »Das Leben an der Seite dieser … Zigeunerin tut dir nicht gut.«
»Aber Mama«, sagte ich. »Du warst doch so begeistert von ihr!«
»Sie lebt ja nicht gerade solide!«, zürnte Mama und schob mir den Gemüseteller wieder gegen den Bauch. »Iss, Kind, du brauchst Vitamine, gerade jetzt in der Aufbauphase!«
Mama sprang auf und holte die zuckersüßen Blutorangen. Mit dem Küchenmesser schälte sie sie und schob mir einige tropfende Blutorangenschnitze hin. »Du brauchst Vitamin C! Jetzt, in der nasskalten Jahreszeit!«
Ich weiß auch nicht, was sich seit meinem Grünkohlessen in meinem Innenleben tut, auf jeden Fall fand ich die Orangenschnitze ekelhaft und mochte sie nicht essen, weder mit noch ohne Kerne, und erst recht nicht, nachdem Mama sie so beherzt geschlachtet hatte, dass sie tatsächlich bluteten. Papa dagegen steckte sich einen nach dem anderen gewissenhaft und treffsicher in den Mund, um die ausgelutschte Schale samt vielen kleinen Kernen wieder auszuwürgen und in Reih und Glied schön ordentlich auf seinen Tellerrand zu legen. »Ich mag wirklich nicht, Mama. Hab im Moment überhaupt keinen Appetit!«
»Alles überflüssig«, triumphierte Papa. Ich war nun ganz sicher, überhaupt keinen Hunger mehr zu haben, und verließ mit einer leichten Übelkeit das Esszimmer. Eigentlich stand das Klavier im Wohnzimmer und wartete auf mich, aber auf einmal hatte ich nicht mehr die leiseste Lust, meinen Eltern etwas vorzuspielen. Ich wollte nur noch weg von hier.
Papa und ich haben einen langen Spaziergang gemacht. Mama muss nach dem Essen immer die Beine hochlegen und dabei die Beschaffenheit der Nachbargärten prüfen, deshalb hockt sie in der Mittagszeit am Wohnzimmerfenster. Zurzeit prüft sie die Beschaffenheit der vom Schnee geräumten Zufahrten zu den einzelnen Garagen, und das kann dauern. Papa ist ein Wandervogel und schreitet gern aus, besonders innerhalb des Kurparkes auf den gefegten Wegen mit den beschnittenen Hecken. Dort schritten wir also aus,
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