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Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Titel: Karlas Umweg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Zeit war, zum Konzert zu gehen. Ich hatte ihn im Schlepptau wie eine Gans ein Dornenvogelküken, er stakste einfach immer hinter mir her, und dementsprechend übellaunig und unkreativ war ich auch. Voll Unbehagen musste ich mich auch noch an der Abendkasse anstellen und für Ludger einen teuren Sitzplatz bezahlen. Während Marie dann im Konzert das Heidelberger Publikum von den Hockern riss und mit ihren Kastagnetten auf dem Tisch tanzte, saß ich wie ein schwarzer Fettfleck muffig und wütend auf meinem Stuhl. Voller Zorn fetzte ich dem ahnungslosen Echtwein die Noten vor den Augen herum, und meine Lust am Dampfablassen hatte sich noch in keiner Weise gemindert, als Marie die Carmen-Szenen darbot und die Heidelberger zu stürmischen Ovationen hinriss. Der blassblaue Ludger lümmelte in seinem verwaschenen Hemd in der ersten Reihe herum und zerbröselte mit seinen langen Fingern das Programmheft. Natürlich hatte ich ihm während unserer kurzen flüchtigen Bekanntschaft nicht erzählt, dass ich nur die Umblätterin war; er war wahrscheinlich davon ausgegangen, dass ich im Konzert Klavier spiele. Aber ich war davon ausgegangen, dass es uns nicht weiterbringt, wenn ich ihm jede Einzelheit meines Lebens erzähle, und so hatte ich es gelassen. Mit dem Resultat, dass er jetzt total peinlich berührt auf seinem Klappstuhl saß.
    Nach dem Konzert klatschte er emotionslos ein bisschen Beifall und saß dann da, stumm und blass und verlegen. Sein ohnehin schon lappiger Hemdkragen hatte sich in seinen langen Hals verkrochen, und mit nüchternem Auge betrachtet, sah er einfach nur noch bescheuert aus. Papa hätte jetzt gesagt: In die Ecke, Besen, Besen, sei’s gewesen. Der Saal leerte sich, ich freute mich schon auf meine mitternächtliche Klavierstunde, aber ich fürchtete, dass Ludger nun auch noch eine nächtliche Unterbringung bei meinem Flanellnachthemd erwarten würde. Während Echtwein noch seinen labbrigen Frack auszog, um in seinen Trainingsanzug zu schlüpfen, in dem er mich immer unterrichtete, bevor er damit zu Bett ging, setzte ich mich an den Flügel und spielte mich warm. Herrn Thiesbrummel beschloss ich zu ignorieren. Es war mir egal, dass Ludger Thiesbrummel nun glauben musste, ich ginge ans Klavier, um ihm zu demonstrieren, dass ich auch Klavier spielen kann. Das hatte ich ihm ja bereits in seiner Grundschule und bei Tante Hella demonstriert.
    Zuerst perlte ich ein paar Arpeggien und Läufe, dann ließ ich den Bach von den Fingern tropfen, und am Schluss begann ich, lustvoll schwermütig und emotional umwölkt in der Mondscheinsonate zu baden. Alles klappte ganz gut, und ich war schon ganz ungeduldig, Echtwein die Ergebnisse meiner Übestunden präsentieren zu können. Doch selbst nach dem Regentropfenprelude von Chopin war immer noch kein Trainingsanzug auf der Bühne erschienen. Wohl aber saß Ludger wie angewachsen auf seinem Stuhl und blickte fasziniert zu mir herauf. Als ich ihn fragend anguckte, fing er wieder so lappig an zu applaudieren.
    Um die ganze Angelegenheit noch ein bisschen hochzuschaukeln, kletterte ich auf den Tisch, nahm mir die Kastagnetten und gab die Carmen-Geschichte zum Besten:
    »Lalalalala lalala lalalala …
    Die Männer quälten unbeugsam
    die Instrumente wie von Sinnen,
    was vollends den Zigeunerinnen
    Verstand und Atem jetzt benahm
    so ward das Lied zum Teufelsritt
    in tollem vollem Fieberrasen
    auf dem Gipfel dann der Ekstasen
    riss sie vollends der Taumel mit
    Trallalalaaa …«
    Ludger starrte mich mit offenem Munde an. Sein Kehlkopf hatte sich weit unten im Hemdkragen verkrochen, die Hände hatte er unter seine endlos langen Beine gesteckt, wo er sie an seinen Kordhosenbeinen abrieb, bevor er endlich losklatschte wie von Sinnen.
    Ich krabbelte von dem Tisch und blieb verlegen stehen. »Ich vermisse meinen Lehrer«, rief ich ihm zu, damit er mit der albernen Klatscherei aufhörte. »Hast du jemanden gesehen?«
    »Ja, der Pianist kam herein und ist dann weggegangen«, sagte Ludger und stand erwartungsvoll auf. »Und was machen wir zwei jetzt?«
    Ludger im blassblauen Hemd und ich im schwarzen Abendkleid wanderten also wieder schweigend und voneinander gelangweilt durch die Straßen von Heidelberg, die um diese Jahreszeit noch nicht einmal mehr einen bescheuerten Touristen hinter dem Ofen hervorlocken können. Am Hotel angekommen, sagte ich, ich sei jetzt entsetzlich müde und wünsche ihm eine gute Heimfahrt. Er blieb stehen und sah mir dabei zu, wie ich beim Nachtportier

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