Karlebachs Vermaechtnis
Nummer gekennzeichnet.« Wir hatten den Rand eines kleinen Ortes erreicht und erkundigten uns bei einem Bauern nach einer Gaststätte. Er wies uns den Weg zu einer Dorfwirtschaft, vor deren Eingang zwei Trecker und ein Lieferwagen parkten. Wir setzten uns an einen Tisch mit einer rot-weiß-karierten Decke und bestellten jeder eine Gulaschsuppe und ein Schnitzel. Während wir auf unser Essen warteten und einen starken Kaffee tranken, zog Helmut einen Notizblock aus der Tasche, malte ein paar Häuschen und sog gedankenverloren an seiner Pfeife. Mein Kopfweh war fast verschwunden und ich versuchte erneut, mich an die letzten Geschehnisse in Israel zu erinnern. Ich blätterte in meinem Tagebuch. Der letzte Eintrag stammte vom Sonntag, dem 14. März. Yassir, Mustapha und Zahi hatten noch einmal einen verzweifelten Versuch unternommen, mich mit Fatma, der Perle Palästinas, zu verheiraten. Dass ich an jenem Freitagabend, an dem ich mit Schlomo Karlebach das Schabbatmahl eingenommen hatte, nicht Abu Shaban aufgesucht und um die Hand seiner Tochter angehalten hatte, wollten sie mir lange nicht verzeihen. Sie straften mich mit demonstrativer Missachtung, Ahmed erhöhte den Zimmerpreis und Mustapha verwehrte mir sogar den Eintritt in sein Lokal.
Ich war am vergangenen Freitag mit einem bangen Gefühl ins Kaffeehaus gegangen. Nach alledem, was mir Schlomo Karlebach eine Woche zuvor über meinen Großvater erzählt hatte, wagte ich es kaum, ihm vor die Augen zu treten. Ich, der Enkel eines SS-Mannes! Wie betäubt hatte ich an jenem Abend Karlebachs Wohnung verlassen. Wie in Trance war ich durch das nächtliche Jerusalem gerannt. Ich rannte und rannte und rannte. Ich rannte an der Klagemauer entlang, an Ahmeds Hotel vorbei, in dem Yassir, Mustapha und die anderen heftig debattierten, rannte durch das Damaskustor, rannte ins Russische Viertel, rannte zur Disco, rannte an dem bulligen Türsteher vorbei, der mich anraunzte, dass der Chef einen Zorn auf mich habe, und ließ mich endlich in Leas Arme fallen. Wenn Karlebach mich hinausgeworfen hätte, wenn er mich geschlagen hätte, wenn er sich an mir gerächt hätte, das hätte ich verstehen können. Wenn er mich erschossen hätte, das hätte ich verstanden. Aber was tat er? Er legte seinen Arm um meine Schulter und tröstete mich. Schlomo Karlebach, dessen Familie von den Nazis ausgelöscht wurde, tröstet den Enkel eines grausamen SS-Mannes. Wir haben Schabbat zusammen gefeiert, sagte er, und damit ist die Sache für mich erledigt. Dann sagte er noch, ich solle mein eigentliches Ziel nicht aus den Augen verlieren. Immer wieder sah ich das Foto aus dem Schlafzimmer meiner Eltern vor mir, das Bild von meinem Großvater in der SS-Uniform. Ich versuchte mir die Szene vorzustellen, als mein Großvater dem jungen Schlomo Karlebach das Foto von seiner Frau zeigte und ihm von der Geburt meines Vaters erzählte. Ich fragte mich, ob mein SS-Großvater auch zu so etwas wie Liebe fähig war. Wie war er gestorben? Hatte er bis zuletzt für das Dritte Reich gekämpft und einen heldenhaften Tod im Kampf gegen ein paar armselige und verhungerte Häftlinge gefunden? Oder war er in seinen Depressionen versunken? Hatte er sich selbst gerichtet? Meine Befürchtungen stellten sich als unbegründet heraus. Karlebach begrüßte mich mit freundlichen Worten und umarmte mich. Er war nicht alleine gekommen. »Das ist Ester Lewin«, stellte er seine Begleiterin vor. »Die Dame, für die ich, wie Ihnen bereits bekannt ist, gewisse Sympathien hege.«
Lea staunte nicht schlecht, als sie ihre Großmutter erkannte. Sie ließ das Tablett stehen und fiel ihr um den Hals. Die beiden Frauen redeten sogleich wild durcheinander und vertieften sich in ein Gespräch.
Karlebach überreichte mir derweil einen dicken Briefumschlag. »In den vergangenen Wochen und Monaten«, sagte er, »sind auch mir die Augen geöffnet worden. Ich konnte nicht länger vor meiner Vergangenheit davonlaufen. Das habe ich über vierzig Jahre getan. Von New York nach Los Angeles, von Montreal nach Buenos Aires, von Rio de Janeiro nach Sidney. Kaum einen Kontinent dieser Erde habe ich nicht gesehen. Auch hier in Jerusalem hatte ich noch keinen Frieden gefunden. Und dann …« Er breitete seine Arme aus, »und dann überstürzen sich die Ereignisse und mein Leben wird durcheinander gewirbelt. Erst lerne ich die liebe Ester kennen, die mich unaufhörlich an Deutschland erinnert und mich drängt, meine Geschichte nicht zu vergessen. Dann
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