Karlebachs Vermaechtnis
Nähe des neuen Krematoriums Gräben ausheben. Die Gräben waren über zwei Meter tief und ungefähr einhundert Meter lang. Ich gehörte zur Nachtschicht. Am Tage musste ich dem SS-Mann zur Verfügung stehen. Er war sehr beschäftigt und aufgeregt, weil er die von überall ankommenden SS-Leute einteilen sollte. Sie gehörten zu einem Sondereinsatzkommando. Sie sollten die Juden erschießen, die aus den Lubliner Außenlagern nach Majdanek marschieren mussten.
Die Aktion Erntefest dauerte den ganzen Tag lang. Und den ganzen Tag über wurde Marsch- und Tanzmusik gespielt. Die Juden wurden durch ein Spalier von bewaffneten Polizisten zu den Gräben getrieben. Dort befahl ihnen ein SS-Mann, in den Graben zu steigen. Dann wurden sie erschossen. Manche SS-Leute bemühten sich, im Takt der Musik zu schießen. So füllte sich allmählich jeder Graben mit Leichen. Die Gräben wurden zu Gräbern.«
»Haben Sie … Konnten Sie diese Hinrichtungen beobachten?«
»Ja. Vom Zimmer des SS-Mannes aus. Er war begeistert von der perfekten Organisation. Sieh dir das an, Jud! rief er, damit du lernst, wie man effektiv arbeitet. Er zwang mich hinzuschauen und ergötzte sich daran, wie ich litt. Ich bemühte mich, keine Regung zu zeigen. Vielleicht war ich auch schon so abgestumpft, dass ich nichts mehr empfinden konnte.
Ich verstehe dich nicht, Jud, sagte der SS-Mann, du bist Zeuge eines Unternehmens von historischen Ausmaßen und kannst dich nicht freuen. Du langweilst mich. Dann schickte er mich in meine Baracke zurück. Sie war leer.
In den nächsten Tagen musste ich das Hab und Gut der Ermordeten sortieren und beim Verbrennen der Leichen helfen. Alle Spuren des Massenmordes sollten beseitigt werden. Als wir damit fertig waren, wurden wir zusammengetrieben. Wir standen zum Appell und wussten, dass auch wir getötet werden sollten. Wie ich später erfahren habe, hat keiner der anderen überlebt.«
»Und Sie?«
»Der SS-Mann wurde plötzlich in ein anderes, ein kleines Lager in der Nähe von Krakau versetzt. Er nahm mich mit. Er habe sich an mich gewöhnt, sagte er zur Begründung. Damit hat er mir das Leben gerettet.
An meiner Situation änderte sich zunächst wenig, doch je weiter es mit dem Dritten Reich bergab ging, je dichter die Gerüchte wurden, dass die Russen im Anmarsch seien, desto schwermütiger wurde mein SS-Mann. Andere SS-Leute wurden noch brutaler, steigerten ihre Grausamkeiten, aber er wurde depressiv. Er sehnte sich nach seiner Familie. Ich musste ihm unentwegt aus der Bibel vorlesen, aus dem Alten und aus dem Neuen Testament. Seine Eltern seien streng gläubig gewesen, sagte er einmal zu mir. Und dann kam der Befehl zur Räumung. An jenem Abend ließ er mich zum ersten Mal mitessen. Ich war feste Nahrung nicht mehr gewohnt, deshalb würgte ich nur ein paar Bissen hinunter. Zum Abschluss reichte er mir die Hand und sagte, von nun an müsse ich wieder für mich selber sorgen und ich solle Gott bitten, gnädig mit ihm zu sein. Noch in derselben Nacht wurde ich wieder in einen Güterwagen gepfercht und abtransportiert. Nach Mauthausen. Dort endeten im Mai 1945 meine Jahre in den Vernichtungslagern des Deutschen Reichs.«
Karlebach richtete sich in seinem Sessel auf und schaute zu Boden. Seine Hände waren gefaltet. Wie zu einem Gebet. Ich wagte kaum zu atmen, meine Finger hatten sich um das Weinglas verkrampft. Es war still. Nur die alte Wanduhr tickte.
Plötzlich hob Karlebach den Kopf und schaute mich mit traurigen Augen an.
»Der SS-Mann«, sagte er mit belegter Stimme, »trug Ihren Namen. Sie sind ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.«
31
Ich fühlte mich großartig. Der Beifall, der mir entgegenbrandete, wuchs orkanartig an. Die Menge tobte und klatschte, die Massen jubelten, schöne Frauen hatten sich mir um den Hals geworfen, strahlten mich an und tätschelten meine Wangen. Es duftete nach teurem Parfüm. Ich war glücklich.
»Junger Mann! Sie müssen endlich aufwachen!«
Es roch noch immer nach Parfüm, aber der Beifall ebbte ab und die schönen Frauen entschwanden. Irgendjemand schlug mich.
»Junger Mann! Aufwachen!«
Ich öffnete die Augen nur so weit, dass es nicht wehtat, und versuchte mich zu orientieren. »Wo bin ich?«, krächzte ich. »Sie sind in Frankfurt und sollten endlich aussteigen!«, brüllte mir eine Frauenstimme ins Ohr.
Ich richtete mich ein wenig auf und rieb mein schmerzendes Gesicht. »Wer hat mich geschlagen? Wie komme ich nach Frankfurt?«
»Mit dem Flugzeug«,
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