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Karlebachs Vermaechtnis

Karlebachs Vermaechtnis

Titel: Karlebachs Vermaechtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe von Seltmann
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aus wie: Jetzt bin ich dein Herr und Gott! Und du sollst keine anderen Götter neben mir haben! Dieser SS-Mann hatte etwas Dämonisches an sich. Wir nannten ihn Satan. Er war kein brutaler Schlächter wie die anderen, er brüllte und tobte auch nicht. Er war ein leiser und stiller Mensch mit feinen Gesichtszügen. Wenn er redete, flüsterte er oft nur. Aber seine Worte drangen durch Mark und Bein. Er unterhielt sich mit uns im freundlichen Ton über Goethe und Schiller, auch über die Bibel, und erkundigte sich, wo wir herstammten. Und im selben Augenblick zückte er seine Pistole und erschoss jemanden. Einfach so. Dann sprach er im selben freundlichen Tonfall weiter, als ob nichts geschehen wäre. Irgendwann machte er mich zu seinem persönlichen Kriecht. Ich hatte schon immer gerne gelesen und während ich in dem Verschlag bei Bernhard hauste, hatte ich besonders viel Zeit. Und Bernhard besaß viele Bücher, die deutschen Klassiker, die Literatur des 19. Jahrhunderts, sogar Hermann Hesse. Er war ein lesender Handwerker. Das war damals nicht selbstverständlich. Nun gut, meine Kenntnisse auf dem Gebiet der Literatur hatten das Interesse dieses SS-Mannes geweckt. Er lud mich häufig zum Essen in seine Wohnung ein. Zum Essen - das heißt, er saß vor einer reich gedeckten Tafel und speiste. Er zelebrierte die Mahlzeiten, genoss jeden einzelnen Bissen und jeden Schluck Wein. Und ich hockte mit am Tisch, ausgehungert, und durfte ihm zuschauen und mich mit ihm über die Leiden des jungen Werther oder über Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg unterhalten.
    Das sind die Fleischtöpfe Ägyptens, sagte er manchmal, wenn wir an der gedeckten Tafel saßen. Wärt ihr Juden doch in Ägypten geblieben oder in der Wüste verreckt, dann hätten wir heute keinen Ärger mit euch.
    Manchmal warf er mir wie seinem Schäferhund einen abgenagten Knochen zu, ein anderes Mal zwang er mich, so viel Wein zu trinken, bis ich völlig betrunken war und mich übergeben musste. Und dann musste ich das Erbrochene, nein, nicht aufwischen, ich musste es aufessen.« Ich schüttelte mich vor Ekel.
    »Die Monate vergingen. Von den anderen, mit denen ich gekommen war, lebte keiner mehr. Sie waren alle tot, vergast, verbrannt, erschossen oder an Hunger und Krankheiten verreckt. Aber ich lebte noch. Ich fragte den SS-Mann einmal, warum er mich nicht erschießen lasse, und er antwortete: Ich schütze dich wie meinen Augapfel. Ich erschieße dich zu meiner Zeit. Vergiss das nicht: Ich bin der Herr, dein Gott. Ich entscheide über Leben und Tod. Ich bestimme, wann du den Weg deiner Väter nimmst. Ich war ihm ausgeliefert. Ich war sein Sklave, sein Hund. Nein, seinem Hund erging es besser als mir. Einmal ließ er mich mitten in der Nacht aus meiner Baracke holen. Ich musste ihm die Passionsgeschichte vorlesen. Damit ich nicht vergesse, warum ich im Lager sei, sagte er. Ein anderes Mal drückte er mir seine Pistole in die Hand und forderte mich auf, ihn zu erschießen. Wir standen uns gegenüber und schauten uns lange in die Augen. Er hatte grüne Augen und lange Wimpern. Ich konnte seinen Atem riechen. Ich drückte ab, mit zitternder Hand, aber die Waffe war nicht geladen.
    Du hast Schneid, Jude, sagte er grinsend und nahm mir die Waffe aus der Hand. Wenn du nicht abgedrückt hättest, wärst du jetzt tot.
    Ich hatte mir in den langen Monaten jeden Millimeter seines Gesichts eingeprägt, kannte jede Pore seiner Haut, jeden Stoppel seines Bartes. Ich konnte sein Gesicht lesen. Oft wusste ich schon vorher, was er sagen oder wie er reagieren würde. Manchmal brachte ich ihm etwas, ohne dass er es angefordert hatte. Dann musterte er mich und sagte: Du verblüffst mich, Jude.
    Irgendwann wusste ich, er würde mich nicht mehr umbringen können. Er hatte mir Bilder seiner Frau gezeigt, mir von der Geburt seines Sohnes erzählt und vom Ärger mit seinen Vorgesetzten. Natürlich demütigte er mich ohne Unterlass weiter, quälte und folterte mich, aber irgendetwas sagte mir: Schlomo, du wirst überleben! Ich hatte sogar die Aktion Erntefest überlebt. Das war die größte Massenhinrichtung in der Geschichte Majdaneks. An einem einzigen Tag - es war der 3. November 1943 - wurden achtzehntausend jüdische Häftlinge umgebracht. Aus Rache für die Aufstände im Warschauer Ghetto und im Vernichtungslager Sobibor. Ich hatte gespürt, dass ein bedeutendes Ereignis bevorstand. Schon Tage vorher musste ich mit ungefähr einhundertfünfzig anderen Häftlingen in der

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