Karlebachs Vermaechtnis
Schreibtisch und schnitt ein Kochrezept aus einer Illustrierten. Neben ihr lag eine hellbraune Mappe.
»Sie sind die Beste, Fräulein Schneider. Was wäre die Lokalpost ohne Sie?«, flötete ich und überreichte ihr, mit einer leichten Verbeugung, den Schokoriegel. »Das ist alles?«, fragte ich enttäuscht, als ich die Mappe aufschlug.
»Alles«, bestätigte sie.
Ich überflog zwei Ausschnitte aus dem Herbst 1973. In der einen Meldung hieß es, der Gemeinderat habe nach heftiger Debatte beschlossen, das Judenhaus abzureißen. Drei Tage später war ein Gefälligkeitsinterview mit dem damaligen Bürgermeister und heutigem Landtagsabgeordneten Bertold Pietsch erschienen, in dem dieser ausführlich die Beweggründe für den Entscheid des Gemeinderats schildern durfte. Rein wirtschaftliche Erwägungen zum Wohle des Dorfes seien ausschlaggebend gewesen, ließ Pietsch wissen. Der bauliche Zustand des Gebäudes habe keine andere Wahl als den Abriss gelassen. Antisemitismus habe selbstverständlich keine Rolle gespielt. Das seien bösartige Unterstellungen einer kleinen Gruppe Verblendeter, die auch noch zur Einsicht kommen werde. Der dritte Artikel, eine längere Bildunterschrift, stammte aus dem April 1974. Das Foto zeigte einen Bagger neben einem Haufen Schutt. Aus dem Führerhäuschen winkte der Fahrer, der uns Kindern übers Haar gestrichen hatte. In der ersten Reihe der Schaulustigen meinte ich mich selbst zu erkennen, aber ich war mir nicht sicher. Ein weiteres bekanntes Gesicht konnte ich nicht entdecken. »Vor 1945 nichts?«, fragte ich.
Fräulein Schneider verneinte. »Sie wissen ja, dass unser Archiv im Krieg ausgebrannt ist. Unter dem, was übrig geblieben ist, habe ich nichts gefunden.« Meine Laune sank auf den Nullpunkt. Ich machte noch Kopien von den Artikeln, setzte mich in meinen Florian und fuhr nach Hause.
Meine Eltern aßen zu Abend, und ich wollte mir gerade eine Scheibe Brot belegen, als meine Mutter sagte: »Onkel Alfred war eben hier. Er war ganz aufgeregt. Du sollst unbedingt heute noch bei ihm vorbeikommen!«
»Heute noch?«, fragte ich mit einem Blick auf die Uhr. Es war schon nach acht. Ich versuchte Axel aus seiner Hütte zu locken, doch der wedelte nur kurz mit dem Schwanz, rollte sich zusammen und döste weiter. Hund müsste man sein, dachte ich und wagte mich in den Regen hinaus. Onkel Alfred bewohnte mit seiner Schwägerin die Hälfte eines Doppelhauses, das zu den ältesten im Dorf zählte. Durch ein Fenster strahlte das bläuliche Flimmern eines Fernsehers. Der Ton war bis auf die Straße zu hören. Ich läutete, aber niemand öffnete. Ich hangelte mich am Fenster hoch und sah Onkel Alfreds Schwägerin vor dem Fernseher schlafen.
Die hat Nerven, dachte ich und ging zur Rückseite des Hauses. Ich blickte durchs Küchenfenster und klopfte gegen die Scheibe. Onkel Alfred saß am Küchentisch und las in der Bibel. Er schreckte hoch und deutete zum Hintereingang, als er mich erkannte. Durch die Abstellkammer, wo sich Struppi an einem fetten Knochen vergnügte, gelangte ich in die Küche. Ein alter Kanonenofen tauchte den Raum in eine wohlige Wärme.
»Ulrich«, begann Onkel Alfred sofort, »ich weiß, wer in dem Judenhaus gewohnt hat.« Er blickte verschwörerisch um sich und schloss die Tür zum Wohnzimmer. »Meine Schwägerin ist zwar schwerhörig, aber sie bekommt trotzdem alles mit«, flüsterte er, während »Ganz in Weiß« von Roy Black durchs Haus dröhnte. »Ich hah ja schon gesagt, meine Schwägerin weiß immer alles. Heute beim Kaffeetrinken habe ich sie gefragt.«
»Und?«
».Alle Juden aus der Gegend wohnten dort. Die Juweliere Karlebach, die Grünsteins und die Rosenthals. Mit ihrer ganzen Sippschaft. Das Haus gehörte den Rosenthals, den Viehhändlern.«
»Und was ist aus ihnen geworden?«, fragte ich. »Tot. Alle tot.« Onkel Alfred schüttelte sich. »Ganz schrecklich. Die armen Menschen.« Er setzte sich wieder an den Tisch und sprach jetzt etwas lauter. »Sie sind alle abgeholt worden, alle drei Familien. Das muss 1941 oder 42 gewesen sein. Sagt meine Schwägerin. Die war nämlich dabei und hat alles mit angesehen. Einer, der jüngste Sohn von den Karlebachs, war nicht zu Hause. Aber den haben sie später auch noch gefunden und weggebracht.« Im Nebenzimmer besang Heino die schwarzbraune Haselnuss.
»Der Juwelier, das war einmal die reichste Familie in der Stadt«, fuhr Onkel Alfred fort. »Die hatten Beziehungen nach ganz Europa, nach Wien, Budapest, Antwerpen,
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