Karlebachs Vermaechtnis
London, ach ich weiß nicht, wo überall hin. Die hatten auch das Geld für die kleine Synagoge gespendet. Ich war noch ein kleiner Junge, als sie gebaut wurde, kurz nach dem ersten Krieg, daran kann ich mich noch erinnern. Aber die ist auch abgebrannt in der Reichskristallnacht. Kurz darauf mussten die Karlebachs ihr Geschäft schließen.« Onkel Alfred flüsterte wieder. »Es war eine schlimme Zeit damals. Was die Nazis den Juden angetan haben … Wir haben erst nach dem Krieg erfahren, was mit ihnen geschehen ist. In unserer Gegend gab es ja nicht viele Juden …
Den meisten ist gar nicht aufgefallen, dass sie weg waren. Der Juwelierladen von den Karlebachs und das Grünsteinsche Kaufhaus wurden von neuen Besitzern weitergeführt. Von Ariern. Nach einer Weile war für die Leute alles so wie früher.«
Onkel Alfred wurde noch leiser. Er winkte mich zu sich heran. »Meine Schwägerin sagt, die Karlebachs aus der Stadt hätten ihre Juwelen hier im Judenhaus versteckt.« Er holte tief Luft und nickte bedeutungsschwer. »Hat man sie gefunden?«, fragte ich.
Onkel Alfred schüttelte den Kopf. »Meine Schwägerin sagt nein.«
Wir schwiegen.
»Wer hat denn nach den Juden in dem Haus gewohnt?«, durchbrach ich die Stille.
»Niemand«, sagte Onkel Alfred, »meine Schwägerin sagt, die Juden hätten das Haus verflucht, als sie abtransportiert wurden. Da hat sich dann niemand mehr rein getraut. Erst nach dem Krieg sind die rlüchtlinge eingezogen. Die wussten ja von nichts.«
»Und die alte Hexe, die Tante vom Oberkirchenrat Knecht?«
»Die war Dienstmädchen beim alten Frick. Und der, sagt meine Schwägerin, hatte das Haus von der Gemeinde bekommen und ihr dort ein Zimmer überlassen. Sie ist vor ein paar Jahren in einem Altersheim gestorben.« Onkel Alfred blätterte in seiner Bibel. »Hör zu, was hier steht: Was nützte es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und verlöre doch seine Seele?« Er klappte das abgegriffene Buch zu. »Der alte Frick war ein Verbrecher. Der hat für das Haus nichts bezahlt und von den Flüchtlingen die Miete kassiert. Die alte Hexe hat sie rausgeekelt, dann wurde das Haus abgerissen.«
»Wem gehörte denn das Grundstück?«, fragte ich.
Onkel Alfred schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht.«
»Was ich nicht verstehe«, sagte ich nach einer Weile, »warum hat hier im Dorf nie jemand über das Judenhaus gesprochen? Warum weiß ich nichts davon, obwohl ich hier geboren und aufgewachsen bin?«
»Das ist doch klar, Ulrich«, sagte Onkel Alfred. »Es hat doch hier jeder ein schlechtes Gewissen gehabt. Meine Schwägerin sagt, das ganze Dorf hat zugesehen, als die Juden abgeholt wurden. Viele haben geklatscht. Und der Pietsch, der Vater von Bertold Pietsch, der war damals Ortsgruppenleiter und hat die Aktion geleitet. Er soll ein Schild aufgestellt haben, auf dem geschrieben stand: Dieser Ort ist judenrein. Aber der alte Pietsch, den kennst du nicht mehr, der hat sich nach dem Krieg das Leben genommen.«
5
In den nächsten Tagen war ich viel für die Lokalpost unterwegs. Hier eine Grundsteinlegung, dort die Einweihung einer neuen Sporthalle, die Hundert-Jahr-Feier eines Gesangvereins und eine Pressekonferenz der Umweltschützer gegen den Ausbau der Schnellstraße. Nichts Spannendes also.
Für den Dienstagabend hatte der Landtagsabgeordnete Pietsch zu einem vorweihnachtlichen Hintergrundgespräch für Journalisten aus seinem Wahlkreis eingeladen. Da die zuständige Kollegin erkrankt war, sollte ich diesen Termin wahrnehmen. Ich wollte mir das zu erwartende üppige Büfett noch schmecken lassen und anschließend endlich nach Tübingen zurückfahren, wo ich studierte. Um mich zum Examen anmelden zu können, fehlte mir noch ein Seminarschein, der jedoch nur bei regelmäßiger Anwesenheit erteilt wurde. Ich war unerwartet mit meinem Studium unter Zeitdruck geraten, denn es kursierten Gerüchte, dass meine Landeskirche eine Altersgrenze einführen wollte. Wenn ich mich bis April nicht zum Examen anmelden würde, wäre ich zu alt, um in den Pfarrdienst übernommen zu werden. Ich saß im Seminar stets in der letzten Reihe, hielt mich mit geistreichen Fragen zurück, sodass der Professor mein Fehlen nicht bemerken würde. Allerdings wurde zu Beginn jeder Sitzung ein Zettel herumgereicht, auf dem man seine Teilnahme mit einer Unterschrift bestätigen musste. Mit meinem Studienkollegen Klaus König, genannt Herr Kaiser, hatte ich das Abkommen getroffen, dass immer, wenn einer
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