Karlebachs Vermaechtnis
Haus durchsucht, aber den Juden nicht gefunden. Bernhard wurde verhaftet und verhört, seine Frau auch. Dann hat er, wie ich später gehört habe, gestanden, dass er den Juden versteckt hatte. Bernhard selber hat nie davon erzählt. Auch nach der Nazi-Zeit nicht. Vielleicht fühlte er sich schuldig, obwohl er mehr getan hat, als man von ihm erwarten durfte. Der alte Frick hat sich wohl für die beiden eingesetzt, dann kamen sie wieder frei.«
»Und der Jude?«
Onkel Kurt warf seine Zigarre weg. »Der Appetit ist mir vergangen«, schüttelte er sich. »Ich weiß es nicht. Den haben sie wohl auch noch erwischt. Aber wo und wie und wann …?« Er bückte sich nach seinem Hornkoffer. »Onkel Kurt, du musst noch die Sache von dem Mahnmal erzählen!«, baten wir.
»Nein. Sonst bleibt mir der Gänsebraten heute Abend im Halse stecken. Und das würde mir meine Luise nie verzeihen.« Er schüttelte uns allen die Hand. Aus der Ferne erklang wieder »Stille Nacht«. Auf der anderen Straßenseite torkelte Flurschütz Röther und grölte: »Heil! Heil!« Mein Bruder, Kumpel Andi und ich schauten uns an. Wir wussten, was wir zu tun hatten. Energisch schritten wir über die Straße und stellten uns Röther in den Weg. »Was grölst du da?«
Röther grinste mit stierem Blick. »Heil! Heil!«, sang er mit schwerer Zunge und schob uns beiseite. »Heilige Nacht, stille Nacht!«
Nach der Bescherung trafen sich mein Bruder, Kumpel Andi und ich im Kartoffelkeller. Wir hatten es uns gemütlich gemacht und ein Tannenbäumchen aufgestellt. Unter unserem Beifall zauberte Andi ein Fünfliterfässchen Weihnachtsbier hervor, das er routiniert anzapfte. Wir stießen an und wünschten uns ein fröhliches Fest. »Sag mal«, fragte mich Andi nach einer Weile, »hast du eine Freundin?«
»Ich? Wie kommst du denn darauf?«
»Na ja, man hört so Gerüchte, dass du dich mit Heiligs Deborah heimlich auf dem Friedhof triffst.«
»Die heilige Deborah!« Mein Bruder prustete los. Als das Gelächter verebbt war, blickte er mich Aufmerksamkeit heischend an. »Schade eigentlich. Ich hätte noch eine Überraschung für dich …« Mein Bruder winkte mit einem Brief. Ich riss ihm den Brief aus der Hand und öffnete ihn. »Das ist ja eine Überraschung!« sagte ich. »Simona Zorbas lädt mich zu ihrem Geburtstag ein. Am zweiten Feiertag.«
»Mich hat sie auch eingeladen«, sagte mein Bruder. »Wer fährt?«
»Du! Wer sonst?«
»Nein, du!«
»Werfen wir eine Münze!«
Wir warfen die Münze. Ich verlor.
»Tja, Pech im Spiel …,«, grinste mein Bruder.
An den Weihnachtstagen kam ich kaum zur Besinnung.
Erst rief der Herr Kaiser an und wünschte mir ein frohes Fest und viel Glück in der Liebe, dann Chefredakteur Stumpf.
»Ich bin schwer krank«, krächzte er ins Telefon.
»Sie krank! Das ist doch unmöglich!«
»Die Grippewelle. Ich habe eine Lungenentzündung. Über vierzig Fieber. Bettruhe!«, röchelte er. »Du bist meine letzte Hoffnung.«
Das roch nach Arbeit. »Was heißt: letzte Hoffnung?«, fragte ich.
»Drei Leute fallen krank aus, zwei erholen sich in der Südsee«, klagte er. »Und der Jahresrückblick ist noch nicht fertig! Kannst du ab morgen in die Redaktion kommen?«
»Herr Stumpf. Zwischen den Jahren arbeite ich nie, das wissen Sie doch. Da schöpfe ich Kraft für’s neue Jahr.«
»Ulrich, ich bitte dich. Es soll dein Schaden nicht sein«, hustete Stumpf. »Wie viel?«, fragte ich.
»Zwölfhundert Pauschale bis zum ersten Januar. Ab morgen«, bot Stumpf.
»Fünfzehnhundert ab übermorgen«, forderte ich. Wir verhandelten noch eine Weile, bis Stumpfs Stimme endgültig versagte und wir uns auf dreizehnhundert ab übermorgen einigten. »Blutsauger!«, verabschiedete er sich. Ich wünschte ihm trotz allem ein frohes Fest und gute Besserung.
Ich hatte mich gerade zu einem Mittagsschläfchen niedergelegt, da läutete wieder das Telefon. Es war niemand zu Hause, also ging ich ran. »Hallo?«, meldete ich mich schlaftrunken. »Hier ist Deborah.«
Wir tauschten freundliche Weihnachtswünsche aus, dann sagte Deborah, dass sie das Testament gesucht und gefunden habe, fch war schlagartig wach.
»Opa Bernhard hat dir noch den Briefwechsel vermacht. Ich lese dir den Abschnitt vor.« Am anderen Ende der Leitung raschelte es. »Hör zu: Ihm hinterlasse ich auch den gesamten Briefwechsel mit Schlomo Karlebach. Es sind insgesamt fünfundzwanzig Briefe.«
»Du bist ein Schatz!«, ließ ich mich hinreißen. Ich spürte, dass Deborah
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