Karlebachs Vermaechtnis
erklärte uns Onkel Kurt. Ich wurde sogleich hellhörig.
»Pietschs Vater hat damals alle Juden abtransportieren lassen. Und er«, damit deutete Onkel Kurt auf Pietsch, »hat das Haus, das wir zu einem Mahnmal machen wollten, abreißen lassen.« Pietsch tobte: »Infame Lüge!«
»Onkel Kurt«, sagte Oberkirchenrat Knecht mit sanfter Stimme, »Weihnachten ist doch das Fest des Friedens. Die Geschichten sind längst vergessen. Wir wollen uns deswegen heute nicht streiten.«
»Erzähl weiter«, ermunterte ich Onkel Kurt. Aber der schüttelte den Kopf, packte sein Flügelhorn und verließ den Dorfplatz. Einige schlossen sich ihm an, schimpfend, dass sie sich nicht die Festlaune verderben lassen wollten. Etwa die Hälfte des Chores scharte sich um Pietsch und beratschlagte, wie es weitergehen sollte. Pietsch zückte einen silberfarbenen Flachmann aus seiner Jacke und war nicht zu beruhigen.
»Das muss ich mir nicht bieten lassen. Nicht von euch!«
schimpfte er, nahm einige tiefe Züge aus seinem Flachmann und drehte sich zu mir. »Du bist der Rädelsführer«, fuhr er mich an. »Das werde ich nicht vergessen.«
Ich eilte Onkel Kurt nach und bat ihn zu warten. Er blieb stehen.
»Was war denn mit dem Judenhaus?«, fragte ich. Onkel Kurt zündete sich eine Zigarre an und blies ein paar Wolken in die Luft. Der Rest des Posaunenchors hatte sich wieder zusammengefunden und spielte »Stille Nacht, heilige Nacht«. Mein Bruder, Kumpel Andi und einige andere hatten sich inzwischen zu uns gesellt. »Pietschs Vater war hier vor dem Krieg Ortsgruppenleiter«, begann Onkel Kurt. »Er war ein ganz schlimmer Nazi, bis zuletzt. Er buckelte nach oben und trat nach unten, wollte Karriere machen. Aber die oberen Nazis, die waren ja nicht dumm, die haben gemerkt, dass Pietsch nicht viel Hirn hatte, und haben ihn für die Drecksarbeit benutzt. Er hat alles getan, um die Juden, die hier wohnten, fortzuschaffen. Es ist ihm ja auch gelungen. Leider.«
»Gab es denn hier gar keinen Widerstand?« wollte ich wissen.
»Widerstand?« Onkel Kurt lachte verächtlich. »Widerstand!« Er spuckte das Wort förmlich aus. »Ich saß im KZ. Pietsch war keine Woche im Amt, da wurde ich abgeholt. Mitten in der Ernte. Nach Dachau haben sie mich geschafft. Weil ich Sozialdemokrat und Pazifist war und mich weigerte, die Hakenkreuzfahne aus dem Fenster zu hängen. Nach einem Jahr Dachau haben sie mich vor die Wahl gestellt: Verschärfte Zwangsarbeit oder Ostfront. Das KZ hätte ich nicht überlebt, ich bin kein Held, also bin ich in den Krieg gezogen. Als überzeugter Pazifist. Was ich dort erlebt habe«, sagte er nach einer Pause, »wünsche ich keinem von euch.«
Wir schwiegen, Onkel Kurt blies Kringel in den Winterhimmel.
»Und Opa Bernhard?«, fragte ich.
Onkel Kurt war erstaunt. »Wieso fragst du nach ihm?«
Ich antwortete nicht.
»Bernhard? Ja, der hatte eine gute Seele. Er war nicht in der Partei. Aber er war auch kein Held, er war Monarchist, kaisertreu. Das Erbe hatte ihm sein Vater hinterlassen. Ich war der Erste und Einzige im Ort, der in ein KZ musste. Und wer hat protestiert? Außer Bernhard niemand. Nur er wurde bei Pietsch vorstellig. Er hat an Pietschs Gewissen appelliert und auf meinen kleinen Sohn verwiesen, der doch dringend seinen Vater benötige. Sicher, einige Dörfler haben sich entrüstet und auch später meiner Frau in der Landwirtschaft geholfen. Aber alle haben den Kopf eingezogen und brav ihre Fahne aufgehängt und ihre Söhne in den Krieg geschickt. Auch der Pfarrer hat geschwiegen. Der war sogar froh, dass er den unbequemen Sozi in seiner Gemeinde endlich los war. Ja, … nur Bernhard hat widersprochen. Das habe ich ihm hoch angerechnet. Und bis zuletzt nicht vergessen. Der alte Pietsch hat ihn schikaniert. Aber Bernhard war ein erstklassiger Schreiner, wurde beim Fabrikanten Frick in der Kriegsproduktion eingesetzt. Das hat ihm bestimmt das Leben gerettet.«
»Warum hat ihn der alte Pietsch gequält?«
»Bernhard galt als Judenfreund. Er unterstützte die Juden, wo er nur konnte. Auch noch, als es wirklich gefährlich wurde. Das weiß ich aber bloß vom Hörensagen, weil ich ja weg war. Er soll sogar eine Zeit lang einen Juden bei sich versteckt haben …«
»Was ist aus dem geworden?« Wir sprachen wild durcheinander. Der Posaunenchor war inzwischen bei »O du fröhliche« angelangt.
»Das muss ziemlich tragisch geendet haben«, erzählte Onkel Kurt weiter. »Bernhards Frau hat sich verplappert. Dann haben sie das
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