Karlebachs Vermaechtnis
lächelte. »Wir müssen uns sehen!«, drängte ich. »Wie wäre es morgen?«
Deborah lud mich zum Kaffeetrinken ein und versprach, einen besonders schmackhaften Kuchen zu backen. Ich stimmte zu, obwohl sich die Begegnung mit dem Rest der Familie nicht vermeiden ließ. Um an die Briefe zu gelangen, würde ich jedes Opfer auf mich nehmen. Am zweiten Feiertag schneite es unaufhörlich. Ich betrachtete den Himmel mit Besorgnis, denn ich wollte nach dem Kaffeetrinken bei Heiligs zu Simona, die in der Stadt wohnte, und besaß immer noch keine Winterreifen. Zu den Heiligs verlief die Fahrt problemlos. Ich parkte meinen Florian wieder im Dorf und stieg die Anhöhe zu Fuß hinauf. »Nein, was freuen wir uns, dass du uns besuchst«, begrüßte mich Mutter Heilig.
Ich zog Mantel und Schuhe aus und überreichte ihr einen Weihnachtsstern vom Gabentisch meiner Mutter. »Das war aber doch nicht nötig!«, bedankte sie sich und lenkte mich ins Wohnzimmer, wo mich Deborah, Miriam und Vater Heilig empfingen. Ich schüttelte allen artig die Hand und wünschte ein gesegnetes Weihnachtsfest. Dann setzten wir uns an die reich gedeckte Kaffeetafel. »Deborah hat gestern Abend extra für dich noch eine Schwarzwälder Kirschtorte gebacken. Weil du die doch so gerne isst», sagte Mutter Heilig unaufhörlich lächelnd. »Das wäre aber doch nicht nötig gewesen«, bemühte ich mich um einen ebenso dauerfreundlichen Gesichtsausdruck, »fch wollte mich doch nur kurz bedanken, dass ihr mir die Bibel geschickt habt. Und euch nicht am heiligen Feiertag stören.«
»Aber nein, du störst uns doch nicht«, sagte Mutter Heilig. »Wir wollen beten«, sagte Vater Heilig mit seiner Fistelstimme.
»Nein, Vati, lass uns was singen«, bat Miriam.
Es dauerte eine Weile, bis sich die Heiligs auf »Ihr Kinderlein kommet« geeinigt hatten.
Wir sangen alle Strophen, Deborah begleitete uns am Klavier.
»So«, sagte Vater Heilig dann, »da unser künftiger Theologe nicht mitgesungen hat, spricht er jetzt das Tischgebet.« Mir wurde schwarz vor Augen und ich hoffte aus einem bösen Traum zu erwachen. Aber die Heiligs starrten mich unverwandt an. Ich ergab mich meinem Schicksal, verlieh meiner Stimme den angemessenen pastoralen Ausdruck und sagte: »Lasset uns beten!«
Ich senkte den Kopf und hatte einen Blackout. Mir fiel kein Gebet mehr ein. Ich räusperte mich und bekam schließlich einen Hustenanfall.
»Entschuldigt bitte.« Ich hob den Kopf. »Ich habe einen Krümel im Hals.« Ich hustete weiter und hoffte, dass Vater Heilig das Gebet übernehmen würde.
Aber der sagte nur: »Die Theologen von heute können nicht mehr beten. O deutsche Christenheit, wohin geht dein Weg?« Dem werde ich’s zeigen, dachte ich und legte los. Nach ungefähr zwei Minuten begann erst Deborah, dann Miriam zu kichern. Ich brach mein Gebet ab, sagte laut Amen und schaute in die Runde. »Das enttäuscht mich nun doch, dass ihr mein Gebet so missachtet», sagte ich strafend. »Was wird nun der Herr Jesus von euch denken?« Deborah und Miriam blickten schuldbetroffen zu Boden, Mutter und Vater Heilig nickten mir anerkennend zu. Nach dem zweiten Stück Torte wurde mir übel. Ich musste bald weg, sonst passierte noch ein Unglück. Ich lenkte das Thema auf Opa Bernhard und die Bibel. »Das ist ein schönes Stück«, sagte Vater Heilig. »Ich hoffe, du behandelst sie auch würdig.«
»Ganz bestimmt«, sagte ich und verlor den Kampf gegen Deborah, die mir noch ein drittes Stück auf den Teller legte. »Ihr wollt mich wohl betrunken machen«, grinste ich, denn die Torte enthielt mindestens die zehnfache Menge Kirschwasser als üblich.
»Ja«, fistelte Vater Heilig, »sie schmeckt heute irgendwie stark.«
»Und sieht irgendwie anders aus, ein bisschen seltsam«, sagte ich.
»Vielleicht ist Deborah verliebt«, stichelte Miriam. »Das ist doch kein Thema fur den Kaffeetisch«, unterbrach Mutter Heilig. »Der Herr wird ihr den künftigen Mann schon zur rechten Zeit schenken. Da ist es gar nicht so wichtig, ob man verliebt ist. Nicht wahr?« Sie blickte zu Vater Heilig, der sich sogleich zustimmend äußerte. Ich musste raus!
»Ich muss jetzt leider bald gehen«, kündigte ich an. »Das ist aber schade!«, flöteten Mutter Heilig und Deborah. »Eine Frage habe ich nur noch«, begann ich. »Opa Bernhard hat mir mal von einem Juden erzählt, mit dem er befreundet war. Er wollte mir den Briefwechsel schenken, doch dann ist er vorher gestorben.«
Während ich sprach, beobachtete ich die
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