Karlebachs Vermaechtnis
Gesinnung. Doch was hat es ihm genutzt?« Karlebach schnaufte tief durch. »Zusammengeschlagen haben sie ihn. Junge Männer in braunen Hemden, halb so alt wie er. Was sage ich? Manche waren noch junge Burschen, keine zwanzig. Sie haben ihn verächtlich gemacht, haben ihn gedemütigt.«
»Das haben Sie beobachtet?«
»Ich konnte von der Wohnung auf die Straße hinabblicken. Der Juwelierladen lag gegenüber.«
»Und Ihr Großvater?«
»Hat sein Geschäft geschlossen, ist nach Hause gegangen und hat so getan, als ob nichts geschehen wäre. Seine Frau hat bitterlich geweint, sein Sohn, also mein Onkel Salomon, hat geflucht und getobt. Wir müssen raus aus diesem Land, hat er gebrüllt. Es wird alles noch schlimmer kommen. Großvater - er war eine stattliche Person, ein Patriarch - hat gesagt, er solle endlich still sein. Wir lebten nicht mehr im Mittelalter. Und außerdem seien beide Mitglieder der Deutschnationalen Volkspartei. Und er, Herschel Karlebach, sei außerdem Mitglied im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten. Was solle also schon passieren? Dann hat er seine Frau gefragt, ob es denn heute nichts zum Mittagessen gebe. Erst später ist er heimlich zum Arzt gegangen und hat sich behandeln lassen.
Abends haben wir wie an jedem Freitag den Beginn des Schabbats gefeiert. Die Grünsteins, denen ein kleines Kaufhaus gehörte, waren da und auch die Rosenthals waren mit ihrem Auto gekommen. Sie hatten von dem Aufruhr in der Stadt gehört und wollten sich erkundigen, was vorgefallen war. Als Großvater Karlebach an die Stelle im Gebet kam, wo es heißt … der du uns erwählt hast von allen Völkern, brachen die Frauen plötzlich in Tränen aus. Wir Kinder wurden bald aus dem Zimmer geschickt, aber wir horchten an der Tür. Wir ahnten, auch wenn wir es nicht ganz verstanden, es war etwas geschehen, was unser Leben entscheidend verändern würde, vielleicht sogar bedrohte. Es war nicht Angst, die ich verspürte, es war …«, Karlebach suchte nach den passenden Worten, »… es war eine Art Aufgeregtheit, die Erwartung eines spannenden Abenteuers. Eines Abenteuers mit ungewissem Ausgang … Ich hörte die Männer diskutieren. Den alten Leo Grünstein, Josef Grünstein, Hermann Grünstein, Philipp und Heinrich Rosenthal, meinen Großvater Herschel Karlebach, Salomon Karlebach, sein ältester Sohn, und Absalom und David Karlebach, die beiden jüngsten Söhne. Sie redeten unentwegt durcheinander, ein Wort ergab das andere. Immer wieder vernahm ich die Worte Palästina und Amerika. Jemand rief: Wir lassen uns von einem betrunkenen Pöbel in Uniform unser Deutschtum nicht absprechen. Mein Onkel Salomon brachte den Namen Ehrlichmann ins Spiel, aber …«
»Ehrlichmann, das war doch dieser berühmte Geiger?«
»Sie haben von ihm gehört? Besitzen Sie eine Aufnahme von ihm?«
»Nein. Der Bruder einer seiner Verehrerinnen hat mir von Ehrlichmann erzählt. Er soll eine beeindruckende Persönlichkeit mit vielen Frauengeschichten gewesen sein.«
»Ehrlichmann, ja Ehrlichmann …« Karlebach wiederholte den Namen ein paar Mal und sah versunken unter sich. Dann hob er abrupt seinen Kopf und erzählte weiter.
»Ehrlichmann war 1930 oder 31, ich weiß es nicht mehr genau, mit einigen SA-Männern in Streit geraten. Es ging um eine Affäre - was sonst? Einer der Braunhemden hat ihm drei Finger seiner linken Hand gebrochen. Eine ziemlich komplizierte Verletzung. Die Ärzte sagten ihm, er werde nie wieder Geige spielen können. Daraufhin ist er zu seinem Onkel nach New York gereist, einem bedeutenden Chirurgen. Der hat ihn wieder zusammengeflickt. Und Ehrlichmann ist in New York geblieben und hat Karriere gemacht.
Onkel Salomon warnte, es werde allen Juden so ergehen wie Ehrlichmann, dass sie zusammengeschlagen und misshandelt würden, aber er konnte sich nicht durchsetzen. Jeder war davon überzeugt, dass sich Hitler höchstens einige Jahre oder vielleicht nur ein paar Monate an der Macht halten würde. Wir sind nicht mehr im Mittelalter, sagte Großvater Karlebach und damit war die Diskussion beendet.« Lea brachte zwei Tassen Tee und für Karfebach ein großes Glas Wasser. »Sehr aufmerksam«, lobte er, leerte das Glas in einem Zug und reichte es Lea zurück. Dann fuhr er fort. »Großvater Karlebach hat sich sehr um Bernhards Mutter und seine Schwester gekümmert, hat sie finanziell unterstützt. Sie waren arme Leute und Bernhards Mutter war häufig krank. Auch Bernhard verdiente nicht viel. Die Weltwirtschaftskrise, er war oft
Weitere Kostenlose Bücher