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Karma-Attacke (German Edition)

Karma-Attacke (German Edition)

Titel: Karma-Attacke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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«Ekelgefühle vor dem Essen».
    «Ihr habt keine Ahnung», murmelte sie und lutschte ein rot- weißes Bröckchen vom türkischen Honig. Eine alte Sehnsucht erwachte in ihr. Wann war sie zum letzten Mal auf der Kirmes gewesen? Mama hatte noch gelebt. Es musste im zweiten Schuljahr gewesen sein oder im dritten. Der dicke Mann mit dem kräftigen Schnurrbart hatte ihr für zwei Euro türkischen Honig vom Block geschabt. Er hatte sehr würdevoll gewirkt, sodass sie fast fürchtete, ihn mit dem Geld zu beleidigen. Später hatte sie noch eine rosa Zuckerwatte bei ihm gekauft; er machte sie besonders groß.
    Vivien kletterte auf ihr Bett. Von dort konnte sie, wenn sie den Hals reckte, aus dem Fenster gucken. Es war nur ein schmaler Streifen. «Oberlicht» nannte Professor Ullrich es, «meine Schießscharte», sagte sie selbst.
    In der linken oberen Ecke war ein Stück vom Riesenrad zu sehen. Sie glaubte sogar, Musikfetzen zu hören. Sie wollte da hin. Ein Kirmesbummel. Ja. Das war es.
    Wenn sie Professor Ullrich fragte, würde der ihr eine Zuckerwatte holen lassen oder noch mehr gebrannte Mandeln. Aber sie wollte selbst hin. Die Gerüche schnuppern, die Farben und Lichter sehen und oben vom Riesenrad spucken. Das hatte sie damals auch gemacht. Zum Entsetzen ihrer Mama.
    Sie klingelte nach Schwester Inge. Sie wusste, dass sie nicht rausdurfte, aber es war einen Versuch wert. Sie würde auch wiederkommen, ganz bestimmt. Eine Stunde würde reichen. Vielleicht eine halbe.
    Schwester Inge sah entnervt aus. Ihre Frisur war zerzaust, als habe jemand versucht, ihr Haare auszureißen. Am linken Unterarm hatte sie eine frische Kratzspur. Sie schüttelte den Kopf. «Hast du deswegen nach mir geklingelt? Glaubst du, ich habe nichts anderes zu tun? Was denkst du, was das hier ist? Ein Hotel?»
    «Ich komme ganz bestimmt wieder! Oder kommen … Sie doch mit.»
    Schwester Inge lachte. «Ja. Das wäre schön. Aber so viel Personal haben wir hier nicht.»
    Vivien zeigte auf die Kratzwunde. «Sind Sie deshalb so sauer?»
    Schwester Inge nickte. «Diese Dana schafft mich. Sie wird uns abkratzen, wenn sie nicht bald anfängt zu essen.» Sie erschrak. So sollte sie nicht vor Patienten reden. Aber sie war auch nur ein Mensch. Sie hatte auch eine Psyche, und sie war nicht endlos belastbar. Sie hatte einen furchtbaren Streit mit ihrer Tochter gehabt. Julia hatte ihr in den letzten Tagen mindestens hundert Euro gestohlen. Wütend dachte Schwester Inge an ihre eigene Kindheit. Julia konnte sich wirklich nicht beklagen. Sie bekam doch alles.
    «Wenn ich dafür sorge, dass Dana wieder isst, darf ich dann zur Kirmes?»
    «Du spinnst doch. Wie willst du das denn machen?»
    Vivien legte den Kopf schräg und lächelte Schwester Inge an. «Lassen Sie mich zur Kirmes? Ich will nur einmal vom Riesenrad spucken und eine Zuckerwatte essen.»
    Schwester Inge wusste nicht genau, warum sie tat, was sie tat. Vielleicht wollte sie nichts unversucht lassen, vielleicht wollte sie Vivien auch nur scheitern sehen, weil es wichtig war, sie ihre eigenen Grenzen kennen lernen zu lassen. Vielleicht waren da auch in den verschlungenen Tiefen ihres Gehirns ein paar Zellen, die ahnten, dass Vivien es möglicherweise schaffen könnte.
    «Okay. Komm mit», sagte sie knapp. Sie durfte die Patienten auf eigenen Wunsch zusammenschließen, das war sogar gern gesehen. Es gab für die Kontakte besondere Sozialräume, wo allerdings wenig stattfand. Hier waren die meisten viel zu sehr in sich selbst eingesperrt, als dass sie Kontakt zu anderen hätten halten können.
    Noch im Hinausgehen griff Vivien sich die gebrannten Mandeln und die Reste vom türkischen Honig. Schwester Inge brachte sie zu Dana. Auf dem Flur vergewisserte Vivien sich noch einmal. «Ich darf dann zur Kirmes.»
    Schwester Inge nickte. «Ich kauf dir persönlich die Karte fürs Riesenrad.»
    Sie schloss Vivien bei Dana ein, wobei sie bezweifelte, dass Dana überhaupt mit Vivien reden würde. Die sterbende Dana, die jeden Tag ein bisschen weniger wurde, als sei es ihre einzige Hoffnung, bald ganz von der Erde zu verschwinden.
    Schwester Inge ging in die Teeküche eine rauchen. Dort stand die dicke Marga und schlang ein Stück Buttercremetorte hinunter. Sie aß mit dem Rücken zur Tür, verbarg den Teller mit ihrem Körper. Es war ihr peinlich, beim Essen beobachtet zu werden.
    Ohne jede Einleitung platzte Inge los: «Meine Tochter beklaut mich. Ich pass hier auf anderer Leute durchgeknallte Kinder auf, statt mich um

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