Karma-Attacke (German Edition)
mein eigenes Balg zu kümmern. Es ist zum Heulen. Das hängt mir alles zum Hals raus.»
Marga Vollmers drehte sich kauend um. Wenn andere Leute offen über ihre Sorgen klagten, fühlte sie sich heimischer auf der Welt. Dann konnte sie auch schamlos essen; das Unglück anderer sprach sie frei. Vielleicht arbeitete sie deshalb als Putzfrau in der Psychiatrie. Im Luxushotel hätte sie es kaum ausgehalten.
«Ich kenn das», sagte sie mit vollem Mund. «Manchmal wollte ich auch wieder ledig und kinderlos sein. Ich habe meine Kinder immer als kleine Vampire empfunden, die mir alle Energie aussaugten. Jetzt bin ich alle los. Mann. Kinder. Alle. Und - jetzt ist es auch Mist.»
Weiter kamen sie nicht. In Danas Zimmer drückte jemand die Klingel. Schulterzuckend drückte Schwester Inge ihre Zigarette in den Aschenbecher.
«Wetten, dass Dana auf Vivien losgegangen ist?»
Doch als sie die Tür öffnete, bot sich ihr ein anderes Bild. Dana kaute gebrannte Mandeln und hatte türkischen Honig an der Lippe kleben. In ihre Augen war eine Lebendigkeit zurückgekehrt, die sie vor Monaten verloren hatte.
«Bringen Sie ihr eine doppelte Portion von dem Hackbraten, sie hat einen Mordshunger!», rief Vivien.
«Nein! Nicht! So geht das nicht! Du musst vorsichtig wieder anfangen. Nicht mit Nüssen und …»
«Ich habe Hunger!», kreischte Dana.
Schwester Inge wollte ihr die gebrannten Mandeln wegnehmen, und es kam zu einem kleinen Handgemenge.
«Kann ich jetzt zur Kirmes?», fragte Vivien ungerührt.
Verwirrt brachte Schwester Inge sie in ihr Zimmer zurück. Während Danas Heißhunger vom ungläubigen Personal vorerst mit einer Suppe gestillt wurde, wollte Schwester Inge von Vivien wissen, was passiert war. Doch die schwieg bockig. Ihre Miene sagte: Zur Kirmes, sonst läuft gar nichts.
Professor Ullrich musste den Besuch der neuen Geschäftsleitung vorbereiten. In einer halben Stunde sollten die Leute da sein. Sabrina hatte ihn schon dreimal daran erinnert. Er schloss ein paar Akten weg, die niemand sehen sollte, und baute die Ordner mit den «wissenschaftlich exakten Berichten» auf.
Diese Arbeit unterbrach er abrupt, als er am Monitor mitkriegte, was sich in Viviens Zimmer abspielte. Er zeichnete alles auf. Zu gern hätte er direkt ins Geschehen eingegriffen, doch etwas hinderte ihn. Schwester Inge kitzelte aus Vivien etwas heraus, das ihm bisher verborgen geblieben war. Hatte sie von Thara heilende Kräfte mit in dieses Leben gebracht? Setzte sie diese Kräfte jetzt im Machtkampf mit Schwester Inge ein? Er würde das alles später analysieren. Als Erstes musste er mit Dana reden. Was hatte Vivien mit ihr gemacht?
Er fluchte. Diese dämliche neue Geschäftsleitung! Die konnten ihm gestohlen bleiben. Er hatte Wichtigeres zu tun!
Dana hatte viel zu schnell gegessen und brach gerade alles wieder aus. Mit hochrotem Kopf und verquollenen Augen stierte sie ihn an und wischte sich mit dem Handrücken gelbe Speichelfäden von den aufgesprungenen Lippen. Das Taschentuch, das die Lernschwester ihr hinhielt, ignorierte sie.
«Ein Brötchen - bitte - kann ich ein Käsebrötchen haben?», sagte sie. «Und Joghurt - ja? Sahnejoghurt - am besten Erdbeer!»
Professor Ullrich nickte. «Was ist passiert, Dana?»
Sie schaute ihn an, als hätte sie den Sinn der Frage nicht verstanden.
Er erklärte: «Wir freuen uns natürlich alle, dass du dich für das Leben entschieden hast. Aber wir wüssten gern, was dazu geführt hat. Warum isst du wieder?»
«Ich habe Hunger bekommen», antwortete sie knapp mit leiser Stimme. «Entsetzlichen Hunger.»
Viel mehr war nicht aus ihr herauszubekommen. Er sah ihr beim Essen zu. Auch das Brötchen kam ihr wieder hoch, aber sie verlangte sofort ein neues. Schließlich fragte sie, wie lange sie schon in der Klinik sei und wann sie entlassen werden könne. Sie sprach wie jemand, der nach einer wilden Party mit schwerem Kater aus seinem Rausch erwacht ist und sich nicht genau an die letzte Nacht erinnern kann. Sie hatte Angst, Mist gebaut zu haben. Scham war im Spiel, Verunsicherung. Wie habe ich mich benommen? Habe ich Unsinn geredet? Randaliert? Nackt auf den Tischen getanzt?
Er beobachtete ihren Fressanfall. Er wusste, dass es solche Phasen gab, aber hier stimmte etwas nicht, und das hatte mit Vivien zu tun. Er musste zu ihr.
10
Als er Viviens Tür einen Spalt weit öffnete, flog ihm Plastikgeschirr entgegen.
«Lass mich in Ruhe, du blöde Kuh!», keifte sie.
Lächelnd öffnete er die Tür ganz.
Weitere Kostenlose Bücher