Karma-Attacke (German Edition)
«Ich bin es, Vivien.»
Sie ließ den Suppenteller sinken und zog einen Schmollmund. Damit kam sie bei ihm weiter als mit jedem Argument, das hatte sie oft genug erlebt. «Sie hat versprochen, dass ich auf die Kirmes darf.»
Er nickte. «Ich weiß, aber das war dumm von ihr. Sie ist dazu gar nicht berechtigt.»
«Warum nicht? Ich will doch nur…»
«Zur Kirmes, ich weiß. Sag mir, was du mit Dana gemacht hast, dann können wir über alles reden.»
«Du lügst. Du lässt mich hier nie raus.»
Er setzte sein verständnisvolles Lächeln auf, nicht ahnend, wie unecht und verkrampft es wirkte. «Hast du es hier nicht gut? Bekommst du von mir nicht alles, was du dir wünschst?»
«Ja, aber du lässt mich nie frei.»
Er schüttelte den Kopf. «Sag mir, was du von der Kirmes möchtest, und ich lasse es dir holen.»
«Ich will mir selber etwas holen. Und Riesenrad fahren!»
Er gab vor nachzudenken, griff sich an die Stirn. All seine Gesten wirkten falsch. Eingeübt. Wie schlechtes Schülertheater. Seine Schläfen kamen Vivien grauer vor als sonst. Das kurz geschnittene stoppelige Haar weniger dicht. So, als wäre er in den vergangenen Stunden heftig gealtert.
Er schlug einen betont freundlichen, ja unterwürfigen Ton an. «Ich versuche, von dir zu lernen, Vivien. Bitte sei meine Lehrerin. Wir hatten Dana schon fast aufgegeben. Sie ist bei achtunddreißig Kilo. Was hast du mit ihr gemacht?»
«Ich will zur Kirmes.»
Sie presste die Lippen aufeinander. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, sie würde nicht nachgeben. Also nahm er ihre Hand.
«Okay. Wir gehen.»
Im Spiegel sah er ihr triumphierendes Lächeln. Stolz warf sie die Haare zurück, zupfte daran. Das tat sie immer, kurz bevor sie eine neue Farbe ausprobierte. Ihr Gang war aufrecht. Ihre Haltung würdevoll. Aber sie war noch nicht zufrieden. Auf dem Flur stoppte sie.
«Die doofe Ziege soll mitkommen.»
Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. «Du meinst Schwester Inge.»
«Ja.»
Die stand in der Teeküche und hörte mit. Eigentlich hätte sie in der Vier sein müssen. Dort hatte sich ein Patient eingekotet und sich die eigene Scheiße wie eine Schönheitscreme ins Gesicht geschmiert. Sie schoss in den Flur und sah Professor Ullrich an. Er ahnte, dass sie alles verstanden hatte, und nickte nur.
Schulterzuckend sagte Schwester Inge: «Okay! Schicken wir unsere Lernschwester in die Vier und gehen auf den Rummel.» In ihrem Ton lagen Spott und gespielte Freude nahe beieinander.
An der Außentür glaubte Vivien durch den offenen Spalt schon die Gerüche von Bratwurst und gebrannten Mandeln zu wittern. Wie ein Denkmal stand dort die Verwaltungsdirektorin. Ungläubig schaute sie von Professor Ullrich zu Schwester Inge und Vivien, dann zog sie den Professor zur Seite. Vivien nutzte die Situation, um ins Freie zu gelangen und tief durchzuatmen. Sie schloss die Augen und hatte das Gefühl, so alles noch deutlicher zu sehen. Ihre Haut kribbelte.
Sturm würde kommen, sie fühlte es. Über dem Meer braute sich bereits etwas zusammen. Warme Luftströme trafen auf kalte. Der Himmel wurde zornig.
«Was immer du vorhast. Bitte, verschieb es. Die neue GmbH …»
Sabrina Schumann sprach leise weiter. Vivien sollte sie nicht verstehen. Aber die hörte sowieso nicht hin. Der Wind wehte die Musik vom Riesenrad herüber. Das war wichtig. Allerdings bekam sie mit, wie sehr Frau Dr.Schumann sich aufregte. Schwester Inge wollte schlichten, bot sich an, allein mit Vivien zu gehen. Professor Ullrich war dagegen. Aber Frau Dr.Schumann bestand darauf: Er könne jetzt unmöglich weg, die Leute seien bereits auf dem Weg zu seinem Büro, wo sie auf ihn warteten.
Der Professor stöhnte und gab nach. Er schärfte Schwester Inge ein, Vivien zu hüten wie ihren Augapfel und in spätestens einer Stunde zurück zu sein - mit einem umfassenden Bericht.
Vivien forderte: «Nein! Du sollst mitgehen! Ich will nicht mit der allein bleiben.»
Scharf fuhr Sabrina Schumann dazwischen. «Bei uns», belehrte sie Vivien, «entscheiden so etwas nicht die Patienten, sondern die behandelnden Ärzte.» Dann warf sie Professor Ullrich einen mehrdeutigen Blick zu.
Schwester Inges Rechte schloss sich wie eine Handschelle um Viviens Gelenk. Sie nahmen den Twingo. Vivien wäre lieber zu Fuß gegangen, aber Schwester Inge war das zu unsicher. Als sie den Motor anließ, brachte Professor Ullrich sein Handy zum Fenster und nannte den PIN-Code. Schwester Inge vergaß ihn sofort wieder.
«Rufen Sie
Weitere Kostenlose Bücher