Karma-Attacke (German Edition)
Maßstäbe? Was soll das denn sein?»
Sie ignorierte seinen höhnischen Ton.
«Das weißt du genau», beharrte sie.
«Ach, komm mir doch nicht so! Wissenschaftlich ist, was die Krankenkasse freiwillig bezahlt, oder was? Hör auf damit, Sabrina, das steht dir nicht. Du bist zu intelligent für diesen AOK-Mist.»
Sie wusste, dass sie sich aufs Glatteis begab, aber sie versuchte es trotzdem: «Wissenschaftlich arbeiten heißt, mit äußerst präzisen Mitteln einen Sachverhalt so objektiv wie möglich zu überprüfen.»
Er lachte herzhaft. «Ja, das macht mein Metzger auch, wenn er mir Fleisch abwiegt.»
Damit war für ihn die Sache erledigt.
Der Aal war so weit. Sie aßen die heißen Stücke im Stehen, pickten sie mit den Fingern direkt aus der Pfanne. Es schmeckte ihr nicht, das Fleisch war ihr zu roh. Doch sie schluckte tapfer.
Fett lief an seinem Kinn herunter und tropfte auf ihren Bademantel. Seine Gier hatte etwas Animalisches. Das liebte sie an ihm. Ein Stück in ihm war nie wirklich zivilisiert worden. Beim Essen trat es zutage oder beim Sex. Jetzt.
9
Wetterfühlig war dafür das falsche Wort. Vivien fühlte sich wie ein lebendiges Barometer. Da ihr Körper stets schneller war als das Wetter, hatte sie eine Zeit lang behauptet, sie mache das Wetter. Das hatte Professor Ullrich ihr ausgeredet. Er meinte, sie reagiere nur. Er kapierte mehr als die meisten, aber alles verstand er eben auch nicht. Sie glaubte immer noch, dass sie das Wetter beeinflussen konnte, ja, dass es in ihr gemacht wurde, aber sie redete nicht mehr darüber.
Ein Tiefdruckgebiet näherte sich, und Sturm zog auf. Das spürte sie deutlich in der Brust. Es fiel ihr schwer zu schlucken. Beim letzten Mal, als sie dieses sandige Gefühl im Hals gehabt hatte, waren an der Küste alle Dämme gebrochen und der Rhein über die Uferbefestigungen getreten. Sie erinnerte sich noch gut an die Bilder im Fernsehen. Erst als die Halsschmerzen nachließen, war auch der Wasserspiegel gesunken. Sie hatte vor dem Fernseher Halsbonbons gelutscht und dem Moderator im Ölmantel zugehört, der berichtete, der Wasseranstieg sei zum Stillstand gekommen, aber man bereite sich auf eine schlimme Nacht vor.
Damals hatte sie es genau wissen wollen. Sie hatte keine Bonbons mehr gelutscht und abends ihre Medikamente nicht genommen. Gebannt hatte sie vor dem Bildschirm gehockt und Schwester Inge durch die Programme zappen lassen, immer zu den neuesten Wasserstandsmeldungen. Und tatsächlich, je mehr ihr Hals zuschwoll, desto tiefer war das Wasser in die Kölner Altstadt eingedrungen. Die Bilder von den Leuten, die im Schlauchboot durch die Straßen paddelten, hatten sie amüsiert.
Dann hatte sie diese Spritze bekommen, das Fieber und die Halsschmerzen waren verschwunden. Mit ihnen war das Hochwasser zurückgegangen. Geblieben war das Bewusstsein der Macht.
Vivien griff erneut in die Schale. Professor Ullrich hatte ihr Feigen mitgebracht. Türkischen Honig und gebrannte Mandeln. Als Dankeschön für ihre Berichte über Thara. Über die Congas wollte er mehr wissen, als es zu erzählen gab. Er konnte so viele Fragen stellen, so erwachsene Fragen. Fragen, auf die sie nie gekommen wäre.
Atmeten sie durch Kiemen? Hatten sie Schuppen oder glatte Lederhaut? Hinter dem Kopf, waren das kleine Flossen oder Beinstummel? Legten sie Eier? Wie viele Zähne hatten sie? Waren es Reißzähne, Hechelzähne, Mahlzähne?
Die Zeichnungen von den verschiedenen Zähnen lagen noch vor ihr auf dem Tisch. Schließlich hatte sie lustlos auf die nach hinten gebogenen, spitzen Zähne gezeigt, dabei waren richtige Congazähne viel größer. Manchmal erfand sie Sachen, nur um Professor Ullrich zufrieden zu stellen. Zum Beispiel glaubte er immer noch, dass die Hillrucs machtvolle Heiler waren, die durch die Energie ihrer Hände Wunden schließen konnten. Und sie hatte ihm weisgemacht, dass die Congas ihre Farbe wechselten, wenn es feucht wurde. Er glaubte ihr alles, aber sie fürchtete den Tag, an dem ihr nichts mehr einfiel. Was sollte aus ihr werden, wenn sie hier nicht mehr die Königin war? Würde eine andere an ihre Stelle treten - eine, die sich besser erinnerte? Die aus Zimmer 5 zum Beispiel, die aussah wie ein Gerippe, die tobte und biss und schlug, wenn sie ihr etwas zu essen brachten? Sie hieß Dana. Aber auf den Namen hörte sie nicht. Vivien ahnte, was mit ihr los war. Sie kannte diese Angst vor dem Zunehmen. Von wegen «die hungert ihre verhasste Sexualität weg». Von wegen
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