Karma-Attacke (German Edition)
ihr die Vorstellung, dass sie nicht von dieser Welt war, sondern von einem Planeten namens Thara stammte, lächerlich wie ein blöder Witz. Sie öffnete den Mund und stellte sich vor, dass der Wind durch den Hals in ihren Körper fuhr und alle Organe freifegte von altem Dreck und Staub. Selbst wenn sie vor Tausenden von Jahren auf Thara gelebt hatte, kümmerte sie das jetzt nicht. Hier wohnten Leute, die Spaß haben wollten, die Karussells bauten und Zuckerwatte herstellten. Hier roch es nach gebrannten Mandeln und Popcorn. Hier war man nicht auf der Flucht vor Congas. Hier gab es die Schreckensherrschaft der Hillrucs nicht. Hier drehten die Menschen Gruselfilme, um sich im Dunkeln fürchten zu können.
Zum ersten Mal im Leben hatte sie das Gefühl, geheilt zu sein. Wirklich gesund. Sie brauchte nicht in die Klinik zurückzukehren. Dort habe ich genug Zeit verbracht, dachte sie. Viel zu viel Zeit. Jetzt wollte sie sich voller Inbrunst ins Leben stürzen, sie hatte schon zu viel verpasst.
«Es ist doch herrlich hier auf Erden. Warum gucken Sie so traurig?», fragte Vivien, als die Gondel unten hielt und sie ausstiegen.
Gern hätte Schwester Inge sich mit Vivien gefreut, doch sie war zu sehr in ihren Gefühlen gefangen. Sie konnte jetzt nicht zuhören. Viviens Willen völlig ignorierend, zerrte sie sie mit sich. Auf keinen Fall durfte sie sie verlieren, nur das war wichtig. Vivien im Schlepptau, stürmte sie ihrer Tochter hinterher, die sich mit ihrem Freund in Richtung Würstchenstand bewegte. Julia hatte ihre Mutter noch nicht gesehen. Wenn es einen Ort gab, an dem sie sie am wenigsten vermutet hätte, dann war das der Rummelplatz. Als ihr jemand von hinten auf die Schulter tippte, drehte sie sich fröhlich um. Sie starrte ihre Mutter an wie eine Fremde. Ihre Pupillen verengten sich.
«Mama?»
«Oh, du erkennst mich noch. Immerhin.»
«Warum bist du nicht im Krankenhaus?»
Der Griff um Viviens Handgelenk lockerte sich. Schwester Inges ganzer Körper schien für einen Moment zu erschlaffen. Dann ließ sie Vivien ganz los und griff nach Julias Arm, zog ihre Tochter zu sich.
«Jetzt weiß ich wenigstens, wo du das Geld verjuxt, das du mir klaust!»
«Mama, bitte. Ich …»
Tom Götte wollte nicht in den Streit verwickelt werden. Er machte einen Schritt rückwärts. Julia war das recht. Mit Blicken flehte sie ihre Mutter an, keine Szene zu machen. Schließlich zogen sich die beiden in die Ecke neben der Würstchenbude zurück. Sie standen in einer Lache aus Urin und Bier, aber sie waren zu sehr mit sich und ihren Problemen beschäftigt, um das zu bemerken.
Toms Bewegungen kamen Vivien sehr frei vor. Er war wie eine Figur aus dem Fernsehen. So quirlig. Lebendig. Unberechenbar. Ihr wurde schmerzhaft bewusst, dass sie das letzte Jahr nur mit Ärzten, Pflegern und Irren verbracht hatte. Jungen in ihrem Alter, interessante Typen, kamen in ihrem Leben gar nicht vor. Bis auf den dicken Zivi vielleicht, den sie schon nach einer Woche gefeuert hatten, weil er die Medikamente lieber selbst schluckte, statt sie auszuteilen.
In Toms entwaffnendem Lächeln lag eine merkwürdige Arroganz, so als sei er über die alltäglichen Kleinigkeiten dieser Welt erhaben. Der Blick erinnerte Vivien an Professor Ullrich; der guckte auch oft so, als könne er durch Dinge hindurchsehen, als wisse er so viel, dass er kaum noch etwas ernst nahm. Manchmal machte sie das rasend. Jetzt, bei Tom, fand sie es faszinierend. Plötzlich wollte sie ihm körperlich nahe sein. Der Wunsch wurde so übermächtig, dass sie vor Scham errötete.
Seine Hakennase war voller Mitesser. Vivien konnte den Blick nicht davon wenden. Sie stellte sich vor, wie sie all die kleinen weißen Würmer aus den Höhlen drückte. Dies schien ihr einfacher, ja natürlicher, als ihn zu küssen. Als sei dies das Eigentliche, was Männer und Frauen miteinander tun: Pickel ausdrücken.
Aber sie nutzte ihre Chance. Sie deutete zur Achterbahn und fragte: «Fährst du mit mir?»
Tom musste darüber nicht nachdenken. Er nickte sofort. Auf keinen Fall wollte er dabei sein, wenn der Streit zwischen Julia und ihrer Mutter eskalierte. Er hatte sich zweihundert Euro von Julia geliehen, um das Motorrad aus der Werkstatt holen zu können. Sie hatte ihrer Mutter das Geld gestohlen, das hatte sie ihm zwei Tage zuvor erzählt. Die Alte sei so dämlich, hatte sie gesagt, die merke sowieso nichts. Die kümmere sich ja doch nur um ihre Scheißirren.
Als er mit Vivien an der Kasse in der
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