Karma-Attacke (German Edition)
haben, sobald sie in der Wanne saß. Den ganzen Tag sah sie ihn kaum. Sie musste sich nur Wasser einlassen, schon war er da.
Nein, er hatte sie nie angefasst. Da war sie sich sicher. Sie war keins der missbrauchten Kinder. Bevor sie bei Professor Ullrich gewesen war, hatten ihr mehrere Therapeuten nacheinander einzureden versucht, ihr Vater habe sie missbraucht. So zumindest erschien es ihr jetzt. Niemand hatte das wirklich gesagt, doch sie fand, die Fragen waren oft in diese Richtung gegangen.
Professor Ullrich nannte ihre früheren Therapeuten immer «Fragebogenpsychologen». Die seltsam sexualisierte Atmosphäre, in der sie groß geworden war, deutete er anders: Als kleines Mädchen war sie für Toi unbrauchbar gewesen. Er hatte sie heranwachsen sehen. Er hatte auf ihre erste Periode gewartet. Sie hatte erst fruchtbar werden müssen, um als Nest für seine Eier gut zu sein. Er hatte geduldig auf seinen großen Tag gewartet.
Kurz nach ihrer ersten Regel hatte er ihre Mutter umgebracht. Leider war dann nicht alles ganz so gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Der schwache menschliche Körper von Herrn Schneider war Tois zerstörerischen Energien nicht gewachsen gewesen. Er hatte zu trinken begonnen. Man hatte ihm Vivien weggenommen. Er hatte den Behörden nicht klar machen können, dass er in der Lage war, für sie zu sorgen. Doch jetzt hatte er sein Leben wieder im Griff. Nun sollte sie ihm die Kinder gebären, die sie ihm auf Thara verweigert hatte.
Ja, so wie Professor Ullrich es sah, ergab alles einen Sinn.
Schwester Inge kam herein, um sich von Vivien zu verabschieden. «Heute gibt es leider keinen Kakao. Der Milchmann ist nicht gekommen.»
Das interessierte Vivien jetzt überhaupt nicht. Sie schaute Schwester Inge an und umarmte sie in einer plötzlichen Gefühlswallung.
«Ich weiß, ich hab Ihnen das Leben verdammt schwer gemacht», gestand sie.
«Ja, manchmal warst du ganz schön ekelhaft zu mir. Trotzdem tut es mir Leid, dass du jetzt gehen musst. Ich meine, für dich ist es bestimmt schöner, wieder zu Hause zu sein, aber…»
Vivien wandte sich ab. Sie schielte zur Videokamera hoch.
«Hier ist mein Zuhause», sagte sie, und es klang ehrlich. «Es ist nicht richtig, dass mein Papa mich hier wegholt. Was soll ich machen, wenn die Hillrucs kommen oder die Congas oder wenn ich wieder im Ata-Knochenkäfig sitze? Soll er mich dann herausholen?»
«Vielleicht reicht es, wenn du ein paar Tage mit ihm verbringst. Deine neue Mutter kennen lernst.»
«Sie ist nicht meine neue Mutter. Sie ist nur die neue Frau meines Vaters. Man hat nur eine Mutter. Man kann keine zweite kriegen.»
«Kann ich dir packen helfen?»
Vivien schüttelte den Kopf. «Grüßen Sie Julia von mir. Und … Tom.»
Professor Ullrich hasste Abschiedsszenen. Was es zwischen ihm und Vivien zu sagen gab, hatten sie sich gesagt. Er wollte jetzt den anderen keine Show liefern. Deswegen saß er in seinem Büro, nur durch wenige Wände von Vivien getrennt, an seinem Schreibtisch und machte einen letzten Versuch. Er schaute auf die Uhr. Es war elf Uhr dreißig.
Der Professor ließ sich mit Kommissar Ackers verbinden. Er wollte Ackers davon überzeugen, er solle Schneider beim Erscheinen in der Klinik verhaften, denn Schneider habe seine Frau und schließlich Ralf Rottmann ermordet. Es gehe um das Wohl von Vivien.
Ackers wimmelte Professor Ullrich ab. «Nett, dass Sie unsere Arbeit unterstützen wollen, aber Herr Schneider ist vom Verdacht des Mordes an seiner Frau freigesprochen worden. Kein Staatsanwalt würde mir für so eine hanebüchene Geschichte einen Haftbefehl ausstellen. Alles, was Sie haben, sind haltlose Vermutungen. Wir müssen später noch einmal telefonieren. Ich sitze in einer dringenden Dienstbesprechung.»
Und damit legte er auf.
Professor Ullrich warf zum ersten Mal in seinem Leben vor lauter Wut eines seiner tönernen Kunstwerke an die Wand. Es zersprang. Die zerbrochenen Teile regneten auf den Teppich. Der rumpflose Kopf des Embryos rollte ihm vor die Füße.
28
Wust gab seinem Chef zu verstehen, dass er durchaus bereit und in der Lage war, weiterhin selbstständig zu arbeiten. Trotzdem machte er sich Gedanken, was sein Chef so trieb. Er wäre doch gerne informiert worden. Er wusste, dass es ihm nicht zustand, so zu reden, aber er machte sich Sorgen um seinen Chef und um die Entwicklung des Falles. Ackers wirkte blass, abwesend, übernächtigt und entnervt. Wenn Wust sich die Akten des Falles anschaute, so
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