Karma-Attacke (German Edition)
die Fingerspitzen, die sich gegen die Doppelglasscheibe drückten. Etwas davon schien tatsächlich bei Vivien anzukommen, denn plötzlich schaute sie hoch. Mit ihren aufgeschreckten Rehaugen entdeckte sie Professor Ullrich sofort. Sie winkte ihm nicht. Ihr Blick reichte aus.
«Keine Angst, ich überlasse dich nicht Toi», hauchte er gegen die Fensterscheibe. Es kam ihm so vor, als würde sie ihn verstehen. Menschen, dachte er, brauchten Telefone und Funkgeräte. Auf Thara konnte ein wahrhaftiger Gedanke mit der Kraft der ihn tragenden Emotion Täler und Flüsse überbrücken und genau die Person erreichen, für die er bestimmt war.
Der blaue Renault verließ das Gelände.
Katrin Reb wartete im Flur. Sie rechnete mit einer Reaktion von Professor Ullrich. Sie war sogar auf seine Kündigung vorbereitet. Fast erleichtert nahm sie seine Krankmeldung zur Kenntnis.
Dann hatte er es plötzlich sehr eilig.
Als Wust und Ackers vor der Klinik ankamen, waren weder Vivien noch der Professor anwesend.
29
Richard Schneider schaltete auf der Autobahn in den fünften Gang. Er hatte sich die Begegnung mit seiner Tochter anders vorgestellt. Zwar war er froh, dass sie nicht so ausgeflippt war wie beim letzten Treffen in der Klinik, doch diesmal schien sie sich ganz in sich zurückgezogen zu haben. Es kam ihm vor, als ob sie Angst hätte. Sie hielt sich mit den Händen am Sitz fest, als fürchte sie, sonst aus dem Auto zu fliegen. Ihre Knöchel traten weiß hervor.
Sie muss längst einen Krampf in den Händen haben, dachte er. Er erinnerte sich daran, wie sie zum ersten Mal mit ihm auf der Kirmes im Riesenrad gesessen hatte. Damals hatte sie sich an ihm festgekrallt, ihre kleinen Fingernägel hatten sich tief in sein Fleisch gegraben. Damals hatte ihn das mit Stolz erfüllt; für ein paar Minuten hatte er sich als ihr Held gefühlt. Er musste jetzt noch bei dem Gedanken lächeln. Diese Erinnerung wollte er in seinem Leben nicht missen.
«Du brauchst keine Angst zu haben, Vivien», sagte er mit ruhiger Stimme. «Ich fahre nur hundertzwanzig. Du bist angeschnallt. Wir haben einen Airbag. Der Wagen ist neu. Und dein Papa ist ein sicherer Fahrer. Hast du vergessen, dass ich noch nie einen Unfall hatte?»
Sie schaute ihn gar nicht an, sondern starrte geradeaus auf die Straße. Erst jetzt wurde Richard Schneider klar, wie groß ihre Reizüberflutung sein musste. Sie hatte drei Jahre in der Klinik verbracht. Weiße Wände. Sterile Umgebung. Kein Wunder, dass eine Autofahrt bei hundertzwanzig Stundenkilometern sie kirre machte. Er wechselte von der linken auf die rechte Spur und drosselte das Tempo. Der Lkw hinter ihm setzte sofort zum Überholen an.
«Hast du Hunger?», fragte er. «Wir könnten zu McDonald’s gehen oder wohin immer du möchtest. Such dir was aus. Ich kenne auch einen guten griechischen Imbiss auf dem Weg nach Hause. Mit scharfem Zaziki.» Er versuchte lachend, eine Verbindung zu schaffen. «Nicht dieser Krankenhausfraß.»
Sie reagierte nicht.
«Wenn du keinen Hunger hast, können wir auch warten. Ulla hat bestimmt etwas vorbereitet. Ulla ist eine gute Köchin, weißt du.»
Er schaute zu ihr herüber. Er war sich nicht sicher, ob sie seine Worte überhaupt hörte. Hatte sein Satz über Ulla sie verletzt? Sofort versuchte er ihn zu relativieren.
«Natürlich nicht so gut wie deine Mutter. Ich meine, der Schweinebraten deiner Mutter ist natürlich unübertroffen. Weißt du noch, wie wir Kartoffeln um die Wette gegessen haben? Du wolltest immer extraviel Soße und …»
Ein VW-Bus überholte. Der Fahrer zeigte ihm einen Vogel. Viviens Vater beschloss, sich ein bisschen mehr auf den Straßenverkehr zu konzentrieren.
Die Bäume huschten so schnell an Vivien vorbei, dass es ihr schien, als würden die Bäume auf sie zufliegen und erst im letzten Moment seitlich abbiegen. Was ihr mehr Angst machte als die Bäume, war diese Autobahn, die durch die Felder kroch wie eine lange graue Schlange mit weißen Streifen auf dem Rücken.
Vivien schloss die Augen und öffnete sie wieder. Die Schlange war immer noch da. Natürlich wusste sie, dass es eine Autobahn war. Doch dieses Wissen nutzte ihr nichts. Die Bedrohung blieb. Sie kam sich klein vor in diesem Auto, wie eine Ameise oder ein Käfer auf dem Rücken eines Conga.
Links neben ihnen floss ruhig die Ichte. Doch Vivien fürchtete, der Conga könnte jeden Moment die Richtung wechseln und ins Wasser eintauchen. Dann würde sie zusammen mit den anderen Insekten auf seinem
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