Karma-Attacke (German Edition)
wieder einen Obsttag einlegen und höchstens Milchreis essen. Sie freute sich schon darauf, das Weißbrot in die köstliche Soße zu stippen. Zum Nachtisch hatte sie Feigen in Parmaschinken gewählt. Vorher nahm sie Champagner, zum Essen einen dunklen Syrah.
Sie hatte in diesem französischen Lokal schon die schwierigsten beruflichen Probleme gelöst. Immer dann, wenn ihr jemand im Weg war, lud sie ihn hierher ein. Sie aß jedes Mal das Gleiche. Immer bestellte sie in perfektem Französisch. Es gab ihr eine gewisse Sicherheit. Sie saß immer auf diesem Platz, mit dem Blick zur Tür, über sich das Foto von Niki de Saint Phalles Tarotgarten.
Merkwürdig, dachte sie, so lange es diesen Ort gibt, habe ich die Gewissheit, dass ich siegen werden. Es ist das erprobte Schlachtfeld. Das Heimspiel.
Nichts durfte sich hier verändern. Eine neue Einrichtung wäre für sie ein Katastrophe gewesen. Eine Änderung der Speisekarte konnte den Karriereknick bedeuten. Undenkbar, statt Syrah einen La Chapelle zu trinken. Nein, die Dinge mussten bleiben, wie sie waren. So lange konnte sie selbst sich verändern und flexibel bleiben. Dieser neue Job war eine große Chance für sie. Ein Aufstieg, der normalerweise Männern um die fünfzig vorbehalten war.
Sie musste Pierre, ihren Lieblingskellner, nicht rufen. Er reagierte auf einen Blick, einen kleinen Wink mit dem Kopf. Er war sehr aufmerksam, denn zehn bis zwanzig Euro Trinkgeld hatte sie ihm noch immer gelassen.
Dr.Sabrina Schumann wusste, dass solch informelle Gespräche im Leben viel entscheidender waren als alle offiziellen. Sie hatte eine Grippe in den Knochen und in ihrer Handtasche ein Paket Tempotücher. Es wäre ihr peinlich gewesen, jetzt ständig zu schnupfen. In ihrer Vorstellung war es immer noch so, dass der, der krank wurde, aufgegeben hatte. Deshalb hatte sie sich die Nasenschleimhäute mit Otriven taubgesprüht. Für die nächste Stunde dürfte ihre Nase kaum tropfen. Trotzdem hatten ihre Augen einen fiebrigen Glanz.
Sie wusste, wie Professor Ullrich diese Dinge sah. Für ihn waren Krankheiten immer ein Ausdruck der Seele. Wer Schnupfen hatte, hatte einfach die Nase voll. Für ihn war der Schnupfen ein Zeichen dafür, dass man eine Situation nicht mehr ertragen wollte.
Er beherrschte ihre Gedanken noch immer. Statt sich auf die neue Geschäftsführerin zu konzentrieren und eine Gesprächstaktik zu entwickeln, klebte sie mit allen Gefühlsfasern an der Frage, ob er mit ihr geschlafen hatte oder nicht. Sie fand, dass Katrin Reb ein gerissenes Luder war. Sie hatte dieses Lokal gewählt, um etwas zu demonstrieren. Ihre Kultiviertheit, überlegene Bildung oder was auch immer. Allein die Art, wie sie auf Französisch bestellte, machte Sabrina Schumann wütend. Auf keinen Fall wollte sie sich auf das Spielchen einlassen und sich nun von Katrin Reb die Spezialitäten der französischen Küche erklären lassen.
Sie konnte jetzt unmöglich auf Deutsch bestellen. Sie wäre sich plump und ungebildet vorgekommen. Aber ihr Französisch war nicht gut genug, als dass sie damit hätte auftrumpfen können. Also nickte sie Katrin Reb anerkennend zu: «Gute Wahl.» Dann sah sie Pierre an: «Für mich das Gleiche bitte. Aber ohne Dessert.»
Pierres Art, die weiblichen Gäste anzuschauen, verlief genau entlang dem schmalen Grat zwischen höflicher Aufmerksamkeit und vorsichtiger Anmache. Jede konnte sich fühlen, als sei er ein bisschen verliebt in sie, aber viel zu schüchtern und respektvoll, um damit herauszukommen. Es wunderte seine Chefin gar nicht, dass mehr als siebzig Prozent der Stammgäste Frauen waren.
Katrin Reb glaubte das Gespräch mit Smalltalk zu eröffnen, als sie fragte: «Können Sie mir erklären, warum Professor Ullrich so sehr an der kleinen Vivien Schneider hängt? Warum lässt er sie nicht einfach gehen?»
Frau Dr.Schumanns Reaktion verriet ihr, dass sie ins Fettnäpfchen getreten war. Sabrina Schumann räusperte sich und putzte sich die Nase, obwohl sie gar nicht lief, aus lauter Verlegenheit. Dann antwortete sie mit krächzender Stimme: «Dieses Mädchen fasziniert ihn. Auf eine ungute Art und Weise, wenn Sie mich persönlich fragen. Er ist von ihr wie besessen.»
Pierre brachte den Champagner in leicht beschlagenen Gläsern. Die Frauen machten keine Anstalten, sie auch nur anzurühren. Sie beachteten Pierre gar nicht, was ihn verwirrte. Sie schauten sich in die Augen. Jede versuchte, im Blick der anderen zu lesen. Beide warteten, bis Pierre sich
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