Karneval der Toten
nichts. Scotts Haltung zum Thema Veränderung ließ sich an den Bäumen und Wegen und dem reparaturbedürftigen Mobiliar ablesen. Deshalb bewahrte er wohl auch alle Habseligkeiten seiner Frau auf, dachte Jury. Declan Scott war wie seine Frau. Wenn Jury ihn jetzt bitten würde, das Zettelchen mit der Notiz über Gilberts Seezunge vorzuzeigen, mochte er wetten, dass Scott dazu sofort in der Lage gewesen wäre.
Declan stand auf und trat an den Schreibtisch, wo die Siphonflasche stand. Die Karaffe hochhaltend, drehte er sich fragend um: »Superintendent?«
»Ja, ich glaube, ich nehme einen.« Während die Drinks zubereitet wurden, musterte er Scott und überlegte: So fühlte es sich vielleicht an, wenn einem im eiskalten Wasser allmählich warm wurde. Oder vielleicht hatte Macalvie doch Recht, und Jury hatte einfach über die besagte Viertelstunde hinaus ausgeharrt, lange genug, um sich in der Gegenwart dieses Menschen zu entspannen.
»Sagen Sie, wer bekäme eigentlich dieses Anwesen, wenn Sie sterben?«
»Jetzt? Flora natürlich.«
»Aber sie ist...«
»Bitte sagen Sie nicht, sie ist tot, Mr. Jury. Ich weiß, es ist die naheliegendste Erklärung. Ich halte die Hoffnung aufrecht, was ja nicht unvernünftig ist, oder?«
»Nein.«
Er reichte Jury seinen Drink. »Ich meine, es kommt darauf an, aus welchem Grund sie verschleppt wurde, nicht? Wenn Marys Exmann der Täter ist, dann ist Flora irgendwo in Sicherheit. Es wäre nicht das erste Mal, dass man so etwas hört.« Declan kehrte zum Sofa zurück.
»Glauben Sie, dass es so gewesen ist?«
Er sah eine Weile sinnierend ins Feuer. »Nein.« Dann kippte er seinen Drink in einem Schluck zur Hälfte hinunter.
Scotts Bemerkung überraschte Jury. Viktor Baumann war genau der Typ gewesen, fand er, der hinter so einem Komplott steckte.
»Warum nicht?«
»Laut Mary wollte Baumann eigentlich gar keine Kinder.«
»Es könnte aber sein, dass er Macht wollte. Ich glaube nicht, dass die Baumanns dieser Welt sich so leicht geschlagen geben.« Jury fragte sich, ob Declan etwas von Johnny Blakeleys Ermittlungen über dieses Haus in der Hester Street ahnte. Oder von der Anklage wegen Kinderschänderei wusste. Jury bezweifelte es, würde es ihm aber auf keinen Fall sagen.
»Haben Sie vielleicht Bilder von Flora, die ich mir ansehen könnte?«
Declan lächelte. »Bloß ein paar hundert.« Er stand auf und zog an dem Wandtischchen hinter dem Sofa eine Schublade auf. Er nahm ein paar Dutzend Aufnahmen heraus und breitete sie zwischen ihnen auf dem Tisch aus. Dann nahm er ein Foto zur Hand. »Das war das Letzte, das habe ich an dem Tag gemacht, als sie...« Declan räusperte sich, »... als sie verschwand. Sie liebte dieses blaue Kleid. Es war nagelneu, und sie hatte solche Angst, es könnte einen Fleck bekommen, dass sie sich nicht einmal hinsetzen wollte.« Er lachte und suchte ein weiteres Foto heraus. »Auf dem hier war Flora drei. Die Aufnahme stammt aus Exeter, wo sie bei Debenhams für die Kinder einen Weihnachtsmann engagiert hatten.«
Jury betrachtete es eingehend. Ihr Haar war goldblond und lockig, und sie war von dieser fast ätherischen Schönheit, die wohl nur Kinder besitzen, reine, unverfälschte Schönheit. Der Weihnachtsmann, von dem nur die Augen über dem weißen Rauschebart zu sehen waren, sah zumindest in diesem Moment so aus, als gälte dies auch für ihn. Jury lehnte sich mit dem Bild in der Hand zurück, um es genauer zu betrachten und womöglich herauszufinden, was ihn daran so berührte. Es war das Inbild von Kindheit, auch seiner eigenen, wenngleich die so schwierig gewesen war. Doch selbst darin hatte es Augenblicke wie diesen gegeben, ja, er war sich sicher, dass es sie gegeben hatte, es hatte bestimmt im Leben eines jeden Menschen solche Augenblicke gegeben – Kindheit in ihrer reinsten Essenz.
Auf einigen Fotos waren nur Mary und Flora in den Gärten von Heligan zu sehen. Jury erkannte den riesigen Rhododendron wieder. Dann folgten mehrere von Declan und Flora. Ein etwas größeres zeigte Declan und eine Frau, die aber nicht seine Ehefrau war. Es war auf der Straße aufgenommen, hinter ihnen war der reich verzierte Jugendstilbogen eines Pariser Metroeingangs zu sehen. Er hielt es in die Höhe. »Paris. Wer ist das?«
Declan wirkt überrascht. »Ach, das ist Georgina. Eine Freundin von mir. Georgina Fox.«
»Wenn ich das so sagen darf – sie sieht hinreißend aus.« Das tat sie. Hoch gewachsen, schlank, hatte sie diese blonde Leichtigkeit an
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