Karneval der Toten
blieb sie an der Tür zu einem großen Raum stehen, offensichtlich einer Bibliothek. Drei Wände säumten Bücher, die vierte nahm ein bräunlichgoldener Marmorkamin ein, in dem der Größe der Holzscheite nach relativ kurz zuvor ein Feuer angezündet worden war. Mr. Scott käme gleich, teilte sie ihm mit. Ihr Lächeln war ziemlich verkniffen, gerade noch so, dass es als halbwegs höflich gelten konnte. Sein erster Eindruck war, dass sie etwas gegen ihn hatte, dies aber offenbar verbergen wollte – eigentlich ganz normal, fand er, wenn einem die Polizei das Haus einrannte.
Dann trat Declan Scott ein, ein gut aussehender, hagerer, etwas abgespannter Mensch, dessen Ausstrahlung außergewöhnlich intensiv war. Er war Jury auf Anhieb sympathisch – was ihm, dem Polizisten, allerdings weniger behagte, denn nun war es womöglich vorbei mit seiner Objektivität. Diese Art von Reaktion auf einen Zeugen könnte Ärger bedeuten. Allerdings war ihm auch auf den ersten Blick klar, was Brian Macalvie gemeint hatte, als er sagte, es sei schwierig, sich mit dem Mann länger als ein paar Minuten im selben Raum aufzuhalten, was sich Jury sehr wohl zutraute. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal jemandem begegnet war, bei dem er dieses Gefühl von Traurigkeit so unmittelbar verspürt hatte. Und das trotz Scotts seltsam abgehobener Art, die manch einer sogar für Gleichgültigkeit halten konnte, der nicht viele Jahre damit zugebracht hatte, Menschen deuten zu lernen.
Declan Scott stand also im Raum und betrachtete Jury, als wäre dieser nur eine weitere Enttäuschung in einer langen Liste von Enttäuschungen. Polizei, private Ermittler – keinem war es gelungen, die kleine Flora zu finden. Und doch vermutete Jury, dass Scotts Gebaren sich nicht ausschließlich durch jenes schreckliche Ereignis rechtfertigen ließ noch diesen Blick erklärte, mit dem er seiner Überzeugung Ausdruck gab, dass Jury vollkommen daneben lag.
Declan Scott erinnerte Jury irgendwie an Angel Gate selbst, den verwilderten Garten, den Widerhall in den Wandelhallen, so opulent, zerschlissen und fast unbewohnt, als hätte sein Besitzer sich selbst bereits teilweise weggeschleudert und mit seiner restlichen Hälfte weitergelebt. Scott trug ein Einstecktüchlein in der Brusttasche, falls er damit jedoch bezweckte, Eindruck zu schinden, war der Effekt ziemlich missglückt, denn die Ecke hing schlaff herunter. Declan Scott wollte aber keinen Eindruck schinden, da war Jury sich sicher.
Scott streckte ihm die Hand hin. »Tut mir Leid, dass Sie warten mussten. Ich hatte mich im Garten hinten noch um etwas zu kümmern. Na ja, so nenne ich es jedenfalls. Meine Gärtner sind da sicher anderer Meinung. Ich habe Sie vorhin dort gesehen, wollte Sie aber nicht stören.«
Jury fiel wieder ein, wie sehr dieser Mann die Privatsphäre anderer respektierte. Er lächelte. »Haben Sie sich nicht gefragt, wer ich bin?«
»O, ich wusste, wer Sie sind. Commander Macalvie hat mich angerufen.« Und nach einer Pause: »Ich muss gestehen, ich bin einigermaßen überrascht, dass Scotland Yard sich jetzt erst in die Ermittlungen einschaltet, nach all der Zeit. Wie kommt das?«
»Sagen wir so, es geschieht auf dringende Bitte von Commander Macalvie.«
»Okay. Belassen wir’s dabei.« Scott lächelte.
Jury ebenfalls. Er hatte das Gefühl, Scott würde sich mit Unwesentlichem nicht lange aufhalten. Jury fuhr fort: »Ich arbeite momentan an einem Fall in London, der möglicherweise in Verbindung steht mit -« Er scheute sich, das heikle Thema zur Sprache zu bringen.
Declan Scott half ihm weiter. »Mit meiner Stieftochter, wollen Sie sagen. Mit Flora.«
»Ja, genau. Mit Flora. Kann sein, dass es da eine Verbindung gibt. Es geht um ein kleines Mädchen, das wir noch nicht identifiziert haben -« Vor Jury tat sich plötzlich ein weites Feld von Möglichkeiten auf. »Von der Identität hängt doch alles ab, nicht wahr?«
Declan musterte ihn skeptisch. »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Superintendent.«
»Ich denke nur laut nach. Das Bindeglied zwischen diesem ermordeten Kind und Flora könnte Floras Vater sein.«
»Viktor Baumann?« Nachdem er Jury einen Sessel angeboten hatte, ließ sich Declan schwerfällig auf ein Sofa sinken, als wollte er Baumanns Last von seinen Füßen nehmen.
»Kannten Sie ihn – ich meine, sind Sie ihm schon einmal begegnet?«
»Ja. Kurz nachdem Mary und ich geheiratet haben. Er reckte sein grässliches Haupt und verlangte das Sorgerecht
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